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»Niemand darf euch schlagen, niemand!«

Mit der Furcht vor »Großserbien« läßt sich der Angriffskrieg auf Jugoslawien am allerwenigsten rechtfertigen Mythen Von Gerd Prokot

  • Lesedauer: 4 Min.

Der Mythos »Großserbien« geistert durch die Politik, seit Serbien als Staat Ende des vorigen Jahrhunderts die internationale Bühne betrat.

Aauf der Suche nach Argumenten, die den Überfall auf Jugoslawien rechtfertigen sollen, sind die Propagandastäbe der NATO fündig geworden. Da sich (noch?) keine »unwiderlegbaren Beweise« von Massenexekutionen und -Vergewaltigungen vorlegen lassen, hat man in den Archiven gekramt und den Beleg dafür gefunden, daß der Völkermord an den Kosovo-Albanern seit zehn Jahren vorbereitet worden ist. Als Beweis dient jene Rede, die Slobodan Milosevic, damals Vorsitzender des Bundes der Kommunisten Serbiens, am 28. Juni 1989 auf dem Amselfeld hielt. Anlaß war der 600. Jahrestag jener Schlacht, in der die vereinigten serbischen, mazedonischen und bosnischen Heere von der türkischen Streitmacht vernichtend geschlagen wurden. Im Grunde eine Schmach, verklärte sich dieses Ereignis in der serbischen

Propaganda zu einer Tat der Selbstaufopferung, die den heiligen Anspruch auf Kosovo als »Wiege der serbischen Nation« begründe.

Vor 600 000 Menschen bediente Milosevic seinerzeit den Mythos vom auserwählten Volk, als er versicherte, Serbien sei stets dort, wo Serben lebten, und serbische Interessen würden unter allen Umständen geschützt werden. Von der Wahrung der Rechte der Kososo-Albaner sprach er nicht.

Als Anwalt der Serben hatte sich Milosevic schon zuvor profiliert. In Kosovo war es in den 80er Jahren zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Albanern und Serben gekommen, deren tiefere Ursachen in der ökonomischen Unterentwicklung der autonomen Republik lagen. Da die Zentralmacht vor allem in kapitalintensive Bereiche der Rohstoffgewinnung und Energieerzeugung investierte, war die Arbeitslosigkeit außerordentlich hoch. 1980 hatte nur jeder zehnte Bürger Kosovos im erwerbsfähigen Alter einen Arbeitsplatz. Leidtragende waren sowohl die Albaner, deren Anteil aufgrund der höchsten Geburtenrate in Europa rasant wuchs, als auch die Serben, die sich diskriminiert sahen, weil die Be-

herrschung der albanischen Sprache zur Voraussetzung für die Besetzung vieler Posten erklärt worden war Tausende Serben fühlten sich verdrängt und wanderten aus. In dieser Situation Provokationen zu starten, war leicht. Als albanische Polizei auf serbische Demonstranten einprügelte, stellte sich Milosevic an die Seite der Bedrängten: »Niemand darf euch schlagen, niemand...«

Dies sollte so etwas wie Milosevics »Glaubensbekenntnis« werden, und möglicherweise liegt hier auch der Schlüssel zur Erklärung seiner nicht selten als irrational eingestuften Handlungen. Daß er seine Politik darauf anlegte, Serbiens Macht und Einfluß als Kernstaat des einstigen Jugoslawiens zu vergrö-ßern, auch territorial, ist unbestritten. Doch darin unterschied er sich beispielsweise nicht von dem Kroaten Franjo Tudjman, der handstreichartig die serbisch besiedelte Krajina besetzen ließ, auf kaltem Weg auch Ostslawonien, und Hunderttausende vertrieb. Der Gedanke an ein »Großserbien« liegt dem Machtpolitiker Milosevic gewiß nicht fern, doch seine Politik darauf zu reduzieren wäre so falsch wie die Behauptung, er habe Kosovo 1989 selbstherrlich die Autono-

mie geraubt. Tatsächlich handelte es sich bei. der Einschränkung der Kosovo-Autonomie um eine einstimmige Entscheidung des kollektiven Präsidiums der SFRJ, dem zu jener Zeit der Moslem Raif Dizdarevic vorstand.

Zur Untermauerung der These vom »Balkan-Saddam« wird mit Vorliebe jene Rede zitiert, die Milosevic am 30. Mai 1991 vor dem serbischen Parlament hielt. Darin plädierte er dafür, »daß die Serben in einem Staat leben sollen«. Unterschlagen wird meist der Zusatz, daß dieser Staat Jugoslawien sein sollte, »in dem die Serben mit anderen jugoslawischen Völkern leben, die das auch wollen«.

Als Beweis für großserbischen Chauvinismus taugt das weniger als jenes »Memorandum«, das im September 1986 von der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste publik gemacht wurde.- Serbien müsse seine »uneingeschränkte Staatsgewalt« über Kosovo herstellen, hieß es da, »um sich dem Völkermord entgegenzustellen und die Aussiedlung von Serben von ihren jahrhundertealten Wohnstätten aufzuhalten«. Keinem Volk werde die kulturelle und geistige Identität so massiv vorenthalten wie dem serbischen, wurde behauptet, und zur Herstellung der Integrität des

serbischen Volkes aufgerufen, unabhängig davon, in welcher Provinz oder Republik es sich befinde.

Als nach den Unabhängigkeitserklärungen Kroatiens, Sloweniens und Mazedoniens der Vielvölkerstaat Jugoslawien auf ein Rumpfgebilde reduziert war und in Bosnien-Herzegowina der Bürgerkrieg ausbrach, stellte sich die Frage ganz praktisch. Wenn es anfangs noch eine Affinität Milosevics zu Karadzic und Mladic gegeben haben mag, so kühlte sich das Verhältnis ab, als die Ultranationalisten in Pale legitime serbische Interessen aufs Spiel setzten. Vergeblich drängte Belgrad auf die Annahme des Teilungsplanes, der den bosnischen Serben knapp die Hälfte des Territoriums zugesprochen hätte. Als weder Drohungen noch Verlockungen verfingen, wurden mit Ausnahme humanitärer Lieferungen alle Verbindungen zur (bosnischen) Serbischen Republik gekappt.

Als Interessenvertreter der Serben in Bosnien-Herzegowina wurde international nur noch Jugoslawiens Präsident Milosevic akzeptiert, der 1995 auch seine Unterschrift unter das Dayton-Abkommen setzte, wofür er von Anhängern großserbischer Träume als Verräter gebrandmarkt wurde, während man im Westen den harten, aber fairen Verhandlungspartner respektierte. Warum das heute nicht mehr gilt, können nur die erklären, die nicht reden, sondern bomben wollen - um den Preis einer noch größeren humanitären Katastrophe.

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