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Die Palästinenser, die Kurden und die Kosovaren

  • Lesedauer: 4 Min.

Die Mehrheit der Grünen und die SPD haben sich bedingungslos der NATO-Doktrin untergeordnet und den Pfad solidarischer und fortschrittlicher Perspektiven verlassen. Aber auch viele deutsche Gegnerinnen und Gegner des Jugoslawien-Krieges leiden unter einer Glaubwürdigkeitslücke. Auf Antikriegsdemonstrationen stößt man nur vereinzelt auf Kritik an der Unterdrückung der Kosovaren, von Solidarität mit den Unterdrückten ganz zu schweigen.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen - dieser Krieg ist ein Angriffskrieg und durch nichts zu rechtfertigen. Zugleich findet aber ein anderer Krieg statt, der des serbischen Regimes gegen die kosovarische Bevölkerung, der mit Methoden der »ethnischen Säuberung« und Massenmorden geführt wird. Die Tragödie wiederholt sich. Oder sind die Massaker in Priedor, Cepa und Srebrenica sowie der jahrelange Beschüß von Sarajevo schon vergessen?

Die vitalen Teile der sozialistischen Bewegung sind in ihrer widerspruchsvollen Geschichte dem zentralen Grundsatz gefolgt, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen

der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Karl Marx), also gegen jede Unterdrückung und Ausbeutung anzukämpfen, wo immer und unter welchen Vorzeichen sie auch immer geschieht. Die Linke unterstützte die nationalen Befreiungsbewegungen in Lateinamerika. Auch die Kämpfe der Palästinenser und Kurden sowie die Anliegen nationaler Bewegungen im Baskenland und in Irland genießen zumindest Sympathie. Die Kosovaren aber, die sich über ein Jahrzehnt friedlich für eine begrenzte Autonomie, für kulturelle und demokratische Selbstbestimmung einsetzten, wurden nicht beachtet - weder von den Regierungen noch von den Organisationen der Linken.

Die UCK-Kämpfer als Terroristen zu bezeichnen, verkennt Ursprung und Entwicklung des Konflikts. Gewann die UCK Rückhalt, weil sie terroristisch ist oder weil sie in den Augen vieler Kosovaren am konsequentesten für deren Rechte eintritt? Israel bezeichnet Organisationen der Palästinenser, die Türkei die PKK als Terroristen. Wo liegt der Unterschied? Obgleich die autoritären und repressiven Methoden die-

ser Organisationen zu kritisieren sind, kann niemand darüber hinwegsehen, daß sie in der Bevölkerung große Glaubwürdigkeit erlangt haben. Ist den Kosovaren, Rugova und der UCK wirklich zu verübeln, daß sie den Westen um Unterstützung bitten? Wen sonst? Rußland steht auf der anderen Seite. Die Linke hat sich nie für sie interessiert. Hat nicht auch Öcalan die EU angefleht, den Kurden beizustehen? Versucht nicht Arafat immer wieder, den Westen für die Anliegen der Palästinenser zu gewinnen? Diese Bemühungen sind so illusorisch wie erfolglos. Aber Westeuropas Linke hat sich den Organisationen der Kosovaren nie als glaubwürdige Gesprächspartnerin angeboten. Großalbanischer und serbischer Nationalismus und Chauvinismus sind zwar gleichermaßen zu verurteilen. Politische Irrwege der UCK oder einzelner Fraktionen von ihr und dubiose Finanzierungsmethoden können aber kein Vorwand sein, sich dem gerechten Anliegen der Kosovaren zu verschließen.

Die deutsche Linke drückt sich konsequent um diese Frage herum. Warum sorgt man sich mehr um die territoriale Integrität eines repressi-

ven Staates als um die elementarsten Rechte der Kosovaren? Zwischen dem Nationalismus der Unterdrückten und dem Nationalismus der Unterdrücker nicht zu unterscheiden, widerspricht den Grundsätzen emanzipativer Politik und mißachtet zentrale theoretische und praktische Errungenschaften, die nationale Befreiungsbewegungen, sozialistische Organisationen und Theoretikerinnen hervorbrachten.

»Linke«, die das Leid der Kosovaren zuerst negierten und jetzt verharmlosen, haben sich nicht weniger als Grüne und SPD vom Pfad einer solidarischen und emanzipatorischen Politik verabschiedet. Wo die plumpe Logik »Der Feind eines Feindes ist mein Freund« herrscht, können keine Ansätze für Solidarität entstehen. Ich frage mich, warum nicht wenige Linke einem alten Blockdenken und Pseudoantiimperialismus verhaftet sind und sogar in einen Neostalinismus abzugleiten drohen.

Sich allen Verhältnissen der Unterdrückung zu widersetzen, kann in dieser Situation nur heißen, sich auf die Seite der Kosovaren zu stellen - trotz und wegen der Ungeheuerlichkeit des NATO-Kriegs. Selbstbestimmungsrecht heißt auch, daß

ein Volk, das sich als solches versteht, das Recht auf Autonomie oder gar staatliche Selbständigkeit hat, sofern es dies wünscht und dabei die Rechte von Minderheiten gewahrt bleiben. Nur so werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß alle Beteiligten einen gleichberechtigten Dialog über die staatlichen Formen des Zusammenlebens und mögliche staatliche Konföderationen führen können.

Eine sich formierende Friedensund Solidaritätsbewegung steht vor einer dreifachen Aufgabe. In den NATO-Staaten ist ein Kräfteverhältnis aufzubauen, das den Fortgang der Bombardierungen und Bodentruppen unmöglich macht. Ohne eine glaubwürdige Politik gegenüber den Kosovaren geht das aber nicht. Die kosovarische Bevölkerung und ihre Organisationen sind in ihrer legitimen politischen und militärischen Selbstverteidigung gegen ihre Peiniger zu unterstützen. Eine durch die UNO legitimierte Truppe muß die Bevölkerung in Kosova schützen. Die Kosovaren müssen das Recht auf Rückkehr, Autonomie und die staatliche Unabhängigkeit erhalten, sofern sie dies wünschen und die Minderheitsrechte der Serben in Kosova garantiert sind. In Serbien sind all jene Organisationen zu unterstützen, die sich der »ethnischen Säuberung« entgegenwerfen und versuchen, eine demokratische Alternative zum Milosevic-Regime aufzubauen.

Christian Zeller 20253 Hamburg

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