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  • Politik
  • Vor 100 Jahren wurde Leonid Leonow geboren

Schreiben als Obsession

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 3 Min.

In seiner Autobiographie fehlt jeder Hinweis darauf, daß er Erfahrungen sammeln, sich auf die literarische Tätigkeit vorbereiten mußte. Er war von Anfang an ein nahezu perfekter Schriftsteller mit einem unerschöpflichen Reservoir an Stoffen und Themen. Schreiben war seine Obsession. 1922 entstanden seine Meistererzählungen »Tuatamur«, »Umsturz in Hahnendorf« und »Das Ende des kleinen Mannes«. Die erste berichtet in ekstatischer Sprache von der unerwiderten Liebe eines mongolischen Heerführers. Die zweite zeigt in farbigen Bildern, wie die Revolution das patriarchalische Leben im Dorf Petuschicha zerstört. Die dritte macht mit dem tragischen Schicksal des' Altertumsforschers Licharew bekannt, der sich 1919 in vorsintflutliche Zeiten zurückversetzt fühlt und dem ein Doppelgänger die Bedeutungslosigkeit der Intelligenz vor Augen führt.

In dem Roman »Die Dachse« (1924) stehen sich die Brüder Semjon und Pawel gegenüber, der eine als Anführer aufständischer Bauern, der andere als Vertreter der Sowjetmacht, die den Aufstand niederschlägt. Der Protagonist des Romans »Der Dieb« (1927) scheitert an den Widersprüchen der Neuen Ökonomischen Politik. Aus dem romantisch gestimmten Revolutionär und Kommissar eines Kavallerieregiments ist der Kopf einer Diebesbande geworden. Daß jetzt nüchterne Zahlen alles entscheiden sollen, geht Dmitri Wekschin nicht in den Kopf. Seine Gegenspieler kennen solche Zweifel nicht. Auch das Schreiben wird

in dem Roman thematisiert. Die fiktive Gestalt des Schriftstellers Firsow ringt mit dejn, gleichen. Stoff, wie Leonow, Die RAPP-Kritik hatte Schwierigkeiten mit der Doppelperspektive des Romans und bezichtigte den Autor und Firsow, »bürgerliche Ideologie« zu verbreiten.

Obwohl sich Leonow in den Jahren danach bemühte, den Forderungen des sozialistischen Realismus gerecht zu werden, stießen seine »Aufbauromane« (»Werk im Urwald“, »Weg zum Ozean“) und Theaterstücke auf Kritik. Diese wurde erst verhaltener, als das Drama »Invasion« (1942) mit einem Stalin- und der Roman »Der russische Wald« (1953) mit dem ersten Leninpreis ausgezeichnet wurden. Um so unbegreiflicher ist es, daß Leonow für die neunbändige Werkausgabe von 1960/62 fast alle früheren Texte umgeschrieben hat. In der Periode des »Tauwetters« kam diese Zurücknahme einem selbstzorstörerischen Akt gleich. Heute zeigt sich, daß der literarische Wert der frühen Texte (die zum Glück auch in den alten deutschen Übersetzungen vorliegen) viel höher ist als jener der Bearbeitungen (und leider auch eines großen Teils der Neuübersetzungen bei Kultur und Fortschritt).

Kurz nach Leonows Tod 1994 kam sein Roman »Die Pyramide« heraus, an dem er 40 Jahre gearbeitet hatte. Hier griff er auf die Apokalyptik des slawischen Henochbuches und der Offenbarung des Johannes zurück und suchte an die großen literarischen Weltentwürfe von Dante, Goethe, Dostojewski und Bulgakow anzuknüpfen, jedoch ohne die philosophische Tiefe und künstlerische Größe der Vorbilder zu erreichen.

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