Muss man Naziparolen ertragen?

Kurt Goldstein zum 60. Tag der Erinnerung, Mahnung und Begegnung

  • Lesedauer: 3 Min.
Der 90-Jährige überlebte den Nazi-Terror in Auschwitz und Buchenwald. Er ist Ehrenpräsident des Internationalen Auschwitzkomitees.
ND: Zum 60. Mal wird am 11. September in Berlin der Opfer des Nazi-Regimes gedacht. Sie waren schon 1945 dabei?

Ja. Ich war zufällig in Berlin, als 1945 die erste Kundgebung stattfand. Die antifaschistische Jugend in Thüringen hatte eine Aktion gestartet: »Sammelt Äpfel für die hungernden Kinder in Berlin«. Die brachten wir in der zweiten Septemberwoche per Lkw nach Berlin und da war am Sonntag diese Kundgebung in Neukölln.

Woran erinnern Sie sich?

Diese Kundgebung war getragen von einem antifaschistischen Konsens: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg! Das war die gemeinsame Auffassung aller, die dort sprachen, Vertreter der SPD, Kommunisten oder Christen.

Dies blieb nicht lange so.

Während sich dieser antifaschistische Gedenktag in der DDR alle Jahre wiederholte, wurde er in Teilen der Bundesrepublik, auch in Westberlin, wo die VVN ihn begehen wollte, oftmals verboten.

Was ist dieser Tag heute?

Ein Tag der Erinnerung, der Mahnung und der Begegnung, an dem wir uns gegen Rassismus, Neonazismus und Krieg wenden.

Nun findet dieser Tag in einem Jahr statt, in dem sehr viel über Befreiung, Kriegsende, Zusammenbruch vor 60 Jahren geredet und geschrieben wurde. Ist im Herbst dazu noch Neues zu sagen?

Ich glaube, ein ganze Menge. Im Januar hatte ich ja in meiner Rede zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz darauf hingewiesen, dass es für uns, die Opfer der Nazi-Zeit, unerträglich ist, wenn Nazis mit Genehmigung des Bundesverfassungsgerichts zu Ehren von Heß in Wunsiedel demonstrieren dürfen und, was noch schlimmer war, dass das Gericht den Nazis in Bochum erlaubte, gegen den Wiederaufbau einer Synagoge zu demonstrieren, die von den Nazis 1938 abgefackelt worden ist. Und da gab es vor einigen Wochen noch ein Urteil des Bundesgerichtshofes, das die Bestrafung von Neonazis aufhob, die »Ruhm und Ehre der Waffen-SS« zu ihrer Losung gemacht hatten. Ich habe in meiner Empörung einen Brief an den Bundeskanzler geschickt.

Was haben Sie ihm geschrieben?

Ich wies darauf hin, dass er beim Staatsakt zur Befreiung von Buchenwald am 10. April gesagt hatte, dass die Nazis nie wieder eine zweite Chance in Deutschland bekommen würden. Und ich schrieb, dass ich den Eindruck habe, dass sie durch derartige Urteile eine zweite Chance bekommen.

Erhielten Sie Antwort?

Ja. Der Herr Bundeskanzler glaubte, mich darauf aufmerksam machen zu müssen, dass die Richter im Bundesgerichtshof nach damals noch gültigen Recht begründeten, dass »Ruhm und Ehre der Waffen-SS« keine Nazilosung war und darum die Bestrafung hätten aufheben müssen. Jetzt gebe es eine Verschärfung des Rechts und danach wären solche Losungen strafbar.

Was ist Ihr Kommentar dazu?

Schon in den Nürnberger Prozessen sind alle nazistischen Organisationen und Losungen in Deutschland als verbrecherisch beurteilt worden. Dies ist ja in das Völkerrecht und damit auch ins Grundgesetz eingegangen. Ich bleibe dabei: Solche Urteile sind unerträglich.

Unerträglich wie NPD-Plakate für junge Berliner Antifaschisten?

Auch da bin ich zutiefst beunruhigt, wenn eine wild gewordene Polizeitruppe in eine Versammlung
eindringt, weil ein Richter darin eine strafbare Handlung sieht, dass man etwas tut gegen Nazi-Propaganda. Und dass ein sozialdemokratischer Innensenator in einem von SPD und Linkspartei.PDS gestellten Senat so etwas zulässt.

Interview: Claus Dümde

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