Es ist nie zu spät, etwas zu verändern

Warum Fe Reichelt mit 80 noch so jung ist

  • Christel Sperlich
  • Lesedauer: 8 Min.
Schwarze Hose mit Rosenmuster. Schwarzer Pulli - darüber ein rotes Jacket. Die flachen Wildlederschuhe ebenfalls rot. Zwei strahlende Blau-Tupfer rahmen das ebenso strahlende Gesicht: die kleinen Ohrringe aus Glas. Dass die überaus lebendige und dynamische Tanztherapeutin gerade ihren 80. Geburtstag gefeiert hat, ist ihr nicht anzusehen. »Früher ging ich viel in Schwarz, seit einiger Zeit aber dringt das Rot durch. Ich fühle mich darin wohl, die Farbe leuchtet, ist feurig und passt wunderbar zu meiner Dynamik. Vielleicht habe ich mich im Laufe meines Lebens dahin bewegt«, meint sie mit einem Augenzwinkern. Auf ein bewegtes Leben blickt Fe Reichelt zurück. Es begann 1925 in Peking und wurde durch die Kindheit in China geprägt. Die Eltern lebten dort seit 1923. Ihr Vater, ein Schiffsarzt aus Riga, arbeitete als Augen- und HNO-Arzt in einem chinesischen Krankenhaus. Die Mutter, gebürtige Bayerin, war mit ihm gezogen. Schon früh wurde das Kind vertraut mit taoistischer Philosophie und Lebensweisheit, dem »Leben aus der Mitte heraus«. Richard Wilhelm, der Übersetzer des Buches »I Ging«, wurde ihr Patenonkel und gab ihr den Namen Fe - in China bedeutet er Anmut. Diese östlichen Traditionen wirkten sich Jahre später auf den von Fe Reichelt praktizierten freien Ausdruckstanz und die von ihr konzipierte Tanztherapie aus. Zu Tai Chi und Qigong hatte sie zunächst keinen Kontakt. In den 20er und 30er Jahren wurden diese Bewegungskünste noch nicht öffentlich in Parks oder auf Straßen ausgeübt, sondern geheim innerhalb der Familien praktiziert und weitergegeben. Dennoch machte sie mit körperlicher Bewegung und Atmung schon als Kind eigene Erfahrungen. »Meine Eltern nahmen mich immer mit zu den Tempeln. Als kleines Mädchen stand ich voller Staunen und Schrecken vor riesigen Buddha-Figuren, vor Dämonen mit ihren großen Füßen und Tatzen. Instinktiv ahmte ich sie mit meiner Körperhaltung nach, um meine Angst zu überwinden und mich von ihnen abzugrenzen. Doch in den Nächten fürchtete ich mich, sie könnten mir etwas Böses antun. Es waren Urkräfte, die eine starke Anziehungskraft auf mich auswirkten - eine Mischung aus Abwehr und Faszination.« Gleichzeitig wurden die Tempelwanderungen aber auch so etwas wie erste meditative Erfahrungen. »Ich setzte mich oft auf einen Berg und ging meinen Gedanken nach. Ich war damals sehr dünnhäutig und verträumt. Ich beobachtete die Menschen, die Art und Weise, wie sie sprachen und sich bewegten.« Neugierig erkundete das Mädchen seine Welt, kletterte auf Bäume, verkleidete sich, war immer in Bewegung. Die Mutter nahm sie mit zu einer Gymnastikgruppe. »Ich war begeistert von diesen kleinen chinesischen Mädchen mit ihren weißen seidenen Hemdchen. Sie strahlten so viel Leichtigkeit aus.« Doch bald erklärte die Mutter der Tochter, sie wirke neben diesen graziösen und anmutigen Mädchen viel zu groß und zu plump. Fe fühlte sich gehemmt und tief verletzt, als die Mutter sie aus der Gruppe wieder herausnahm. Jahre später in Deutschland wurde Fe Reichelt Mitglied des Gertrude Steinweg-Balletts in Halle. Jetzt lebte alles Leichte in ihr auf, die Erinnerung an die hinreißenden chinesischen Theateraufführungen, die Neigung zu schauspielern, zu singen, zu malen, Kostüme zu entwerfen. »Stimme, Sprache, Farben, Requisiten, Musik und Bewegung - alles passte zusammen. Das war die Geburtsstunde für meinen Tanz.« In der Euphorie setzte Fe alles daran, ihren Körper zu formen. Sie legte schwere Gewichte auf die Beine, um sie weit auswärts zu biegen. »Meine Lehrerin war streng. Selbst nach meinem ersten Bühnenauftritt bemängelte sie meinen Körper. Ich hätte einfach keine Ballettfigur, sei viel zu mollig und ungeformt. Das kränkte mich erneut und erinnerte mich an die tiefe Verwundung durch meine Mutter.« Fe Reichelt verließ die Tanzgruppe, ging mit 24 Jahren nach Berlin und wurde Meisterschülerin bei der weltweit geschätzten Modern-Dance Pädagogin Mary Wigman. »Versuchte ich vorher, meinen Körper um jeden Preis zu formen, wollte ich ihn jetzt veredeln, beseelen, gestalten. Ich wollte keine Ballerina werden, es ging mir nicht um Show. Ich wollte mich ausdrücken und befreien, von innen her. Mary Wigmann klopfte wiederholt auf meinen Bruskorb, der fest und völlig blockiert war. Ich war viel zu kopflastig und leistungsorientiert, nahezu besessen und wie vom Ehrgeiz zerfressen. Mary Wigman brachte es auf den Punkt: "Oben Nonne, unten Hure".« Fe Reichelt lacht und fügt hinzu: »Ich war einfach gespalten. Meist ohne Erdung, immer nur ganz weit oben. Tanzte ich jedoch mit den Füßen fest am Boden, fehlte mir die Leichtigkeit, dann blieb ich oben fest und verschlossen. Ich hatte nie beides.« In ihrem neuen Buch »Tanz der Wandlungen« schreibt sie heute: »Alles, was wir in der Bewegung nur vom Verstand her konstruieren, ist nicht wirklich und wird weder ganz erlebt noch von anderen verstanden - "es kommt nicht rüber". Der Ausdruck ist nicht in seiner Atmung.« Fe Reichelt merkte bald, dass sie nur durch Loslassen, Ausatmen, Abgeben frei werden konnte, die verlorene Mitte sich nur wieder aus der Verbindung zur Kraft aus der Erde herstellen ließ. Sie erinnert sich, dass schon Mary Wigman die Bedeutung der Atmung im Tanzausdruck hervorhob, wenn sie auf Hindernisse und Blockaden stieß. »Aber sie gab uns keinen Schlüssel, um die Türen zu diesem außerordentlichen Geheimnis öffnen zu können.« Seitdem suchte die Schülerin diesen Schlüssel. Sie suchte die Wurzeln ihrer Kindheit und erinnerte sich ihrer eigenen kindlichen Unruhe, aber auch der ruhigen Art und Weise, in der die Chinesen mit ihr umgingen. Besonders warmherzig denkt sie dabei an ihre Amme, die ihr in Zeiten des Alleinseins ein großes Urvertrauen schenkte. Es wurde eine lebenslange Suche nach der eigenen Lebensspur, nach dem eigenen Weg. »Ich habe in meine eigene Atmung hineingehorcht, wo sie blockiert ist und wo sie fließt, wo ich etwas festhalte, und wie der Zustand der Leere sich beim Ausatmen anfühlt. Es ging darum, die mehr oder weniger verlorene Verbindung zur Erde wie auch zur eigenen Mitte wieder herzustellen und den Intellekt zu entlasten. Wie oft merke ich, dass ich "außer mir" bin? Aufregung, Hineinsteigern, eine Aufgabe nach der anderen im Zeitdruck, nicht gewollter Stress, Unvorhergesehenes - der Fluss, der möglicherweise vorher noch bestand, ist abgerissen. Was mache ich mit mir, was tue ich mir gerade an? Wie atme ich gerade? Wo bin ich eigentlich. Nicht andere, nicht das Andere ist schuld, sondern ich selbst lasse dies oder jenes mit mir machen«, mahnt Fe Reichelt in ihrem Buch und rät: »Wenn ich gerade auf die Palme gestiegen bin, wird es höchste Zeit, wieder herunterzukommen. Wo bin ich? Hier. Mein Atmen wird sich sofort abwärts begeben und mir dabei helfen, gründlich loszulassen ... hör auf im Tun oder fange ruhig von vorne an, dich dem Notwendigen zu widmen. Früheste Gewohnheiten der Körperhaltung, längst überwunden geglaubt, können sich in diesen Situationen wieder einstellen. Doch die Besinnung wird immer öfter auf Anhieb gefunden.« Fe Reichelt beschränkte sich in ihren Forschungen auf einfachste Regeln und Formen. Ihre Methode nannte sie den »Atemkreis«. »Jeder Regentropfen auf einer Wasserfläche lässt Kreise entstehen, schließlich befinden sich die Elemente der Natur bei ihrer ständigen Verwandlung in einem Kreislauf. Der Baum bildet, indem er größer wird, Wachstumsringe; vergleichbar mit dem Baum sehe ich, wenn frühe Konflikte durch Erkenntnis verwandelt werden; tauchen sie wieder auf, ist der Reifegrad ein anderer, die Kraft des Überwindens bereits gefunden und geübt.« In der Tanztherapie wird ein fehlender oder abhanden gekommener Trieb in seiner Negation gefühlt und nicht verdrängt oder ersetzt, sondern in der Bewegung erlebt und als Energie erkannt, die in positiver Form neu entsteht und aus der Verkümmerung heraus- und heranwächst. Es heißt also ansehen, annehmen, hindurchgehen und sich verwandeln. Wandlung - das Kernthema ihres Tanzausdruckes. »Eine tanztherapeutische Arbeit beginnt dann, wenn nicht nur Atmung und Zustand erkannt werden, sondern zusätzlich der jeweilige Ausdruck in der Bewegung weitere Einblicke, Erkenntnisse und Veränderungsmöglichkeiten bietet.« Fe Reichelts Neugier auf den psychologischen Hintergrund der Gefühle ließ sie Philosophie und Psychologie studieren. Fe Reichelt erkannte, dass der Tanz und die simplen Atemübungen Geheimnisse vieler Lebensthemen beinhalten, »weil sich in unserer natürlichen Atmung unser seelischer Zustand gnadenlos oder gnädig zeigt und tiefere Bewusstseinsschichten berührt«. Es genügt ihr nicht, lediglich einen harmonischen, heilenden Energiefluss zu entwickeln. Genauso wenig gibt sie sich damit zufrieden, Konflikte immer in Bewegung zu halten, also Wut und Zorn nur raus zu lassen. »Wir haben beides in uns. Natürlich hat auch das Harte seinen Platz, seine Zeit. Manchmal müssen wir die Zähne zusammenbeißen oder die Tigertatze zeigen. Dann ist unsere Atmung gehetzt. Die Wut hat zwar etwas Zerstörerisches, aber ich kann mit dieser Kraft auch etwas Positives bewirken, sie in etwas Sanftem verwandeln. Ich muss bewusst entdecken, warum halte ich fest, warum ist mein Nacken oder Kinn immer verspannt? Brauche ich die Panzerung heute noch? Waren hochgezogene Schultern oder die zusammengepresste Brust früher möglicherweise lebens- oder überlebensnotwendig, haben wir heute Werkzeuge in der Hand, unsere Energie nicht losgelöst, sondern in einem Gesamtfluss zu gebrauchen? Dann werden neurotische Gefühle uns nicht mehr beherrschen, wir kriegen sie in den Griff. Darin liegt für mich das Therapeutische und die Verbindung von östlicher und westlicher Bewegungskultur.« Fe Reichelt blickt auf ein Leben voller Geschichten. Sie fühlte sich nie zu alt, sich für eine Sache zu begeistern und einzusetzen. Mit 52 Jahren begann sie ein Studium der Sonderpädagogik. Sie arbeitete viel in der Rehabilitation mit Menschen, die mehr oder weniger schwere Krankheitszustände hinter sich hatten und bereits auf dem Wege der Genesung waren, aber auch mit psychisch gestörten Menschen. Sie bietet Einzel- und Gruppentherapie sowie Fort- und Weiterbildungen an. Sie ist Mitbegründerin des Frankfurter Instituts für Tanztherapie und Lehrtherapeutin des Berufsverbandes der TanztherapeutInnen Deutschlands. Ihr Lebensmotto: »Es ist nie zu spät, noch etwas in einem Leben zu verändern.« Fe Reichelt setzt sich in ihren weinroten Sessel und scheint nach einem dreistündigen Interview weder genervt noch erschöpft. »Früher war ich oft sehr traurig, mit 17 fast schwermütig. Ich fürchtete mich vor Dämonen, fühlte mich oft verfolgt und getrieben. Jetzt bin ich frei und geerdet, jetzt kann ich die Farbe Rot für mich zulassen, jetzt bin ich angekommen. Rot ist ja auch die Mitte.«
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