- Kultur
- JOSE SARAMAGO bewegt sich mit »Alle Namen« auf Kafkas Spuren
Wer nicht registriert ist...
Jose Saramago, der portugiesische Wort-Zauberer, lässt sich beim Zaubern zuschauen. So also entsteht Literatur- Man wähle einen Stoff, so nahe liegend wie absurd, erfinde skurrile Figuren, die nebenan wohnen könnten, mische vorhandene mit erdachten Mythen, dämonisiere die Banalitäten des westlichen Alltags und gebe je eine Prise Sarkasmus und Mitgefühl hinzu - schon hat man ein großartiges Werk wie den jüngsten Roman von Nobelpreisträger Saramago, geboren 1922 in einer Landarbeiterfamilie.
»Alle Namen« ist die Beschreibung einer perfekt unauffälligen Diktatur- Das »Zentrale Personenstandsregister« (eine Art oberstes Standesamt) kontrolliert jede Lebensregung. Mit seinem Kanzleigeruch nach altem Papier und Parfüm ist es »Welt und Zentrum der Welt«, die Behörde schlechthin. Auf den Karteikarten finden sich alle Namen - die der Lebenden und.der Toten. Niemand exi-
? stiert, der hier nicht registriert wurde.
»Alle Namen« ist die Geschichte eines Amtsschreibers ohne Nachnamen. Sr Jose, »ein Untertan, gewohnt, Befehle zu empfangen«, gehört zu jenen braven Gehaltsempfängern, die jede Gewaltherrschaft dulden, aber auch an der Berechtigung der Institution Demokratie zweifeln lassen. Der. Junggeselle, verstaubt zwischen Aktenbergen, leistet sich in der Freizeit eine Extravaganz. Er sammelt Daten über Berühmtheiten. Ein harmloses Vergnügen - bis er nachts in die Behörde eindringt, um die Karteikarten seiner Idole zu entwenden.
Einmal greift er daneben; daheim auf seinem Tisch findet Sr Jose plötzlich die Angaben zu einer ihm fremden Person - weiblich, 36 Jahre alt, geschieden. »Er hatte den Schrank voller Männer und Frauen, von denen fast täglich in den Zeitungen die Rede war, und auf dem Tisch den Geburteneintrag eines unbe-
Jose Saraniägo: AfieNamen. Roman. Deutsch von Ray-Güde Mertin. Rowohlt Verlag Reinbek. 314 S.. geb., 42 DM.
kannten Menschen, und es war, als hätte er sie gerade alle in eine Waagschale gelegt, hundert auf die eine Seite, einen auf die andere, und danach verblüfft festgestellt, dass all jene zusammen nicht mehr wogen als dieser eine.«
Nun stürzt sich Sr Jose in wilde Abenteuer, um mehr über die Unbekannte zu erfahren. Zum ersten Mal im Leben tut er etwas ohne Auftrag nur für sich. Es wirft ihn aus der Bahn.
Großartig, wie Saramago Wesen und Ausmaße der Behörde beschreibt, indem er etwa jenen Forscher erwähnt, der eines Tages im Archiv der Toten verschwindet, »wie durch ein Wunder nach einer Woche entdeckt, hungrig, durstig, erschöpft, delirierend«. Wunderbar, wie der Erzähler den eigenen Standort verschleiert - mal
zeigt er Verständnis, mal ist er ganz amtlicher Chronist. Großartig, wie Erdachtes, Erträumtes immer wieder in Realität umschlägt und zurück in Fiktion. Mit Vergnügen liest man auch eingestreute Lebensweisheiten kleine vertrackt-einfache philosophische Erkenntnisse, mit spöttischem Unterton formuliert; Sr Jose gewinnt sie aus Dialogen mit der Zimmerdecke, mit dem eigenen Ich und mit einem Schäfer, der auf dem Zentralfriedhof die Grabsteine vertauscht.
Nur eines kann man dem Buch (oder seinem Autor) vorwerfen: Der Stoff war schon »besetzt«. All das gibt es schon - den kleinen Angestellten im Getriebe einer gnadenlosen Behörde, die Angst, die Ohnmacht, die Behörde als Metapher für den Staat. Kafka, »Der Prozeß«. Doch während bei Kafka nur das Grauen regiert, hat Saramago ab und an ein Augenzwinkern. Und sein Gott ist ein gütiges Wesen.
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