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Mysteriöse Fluchten

P.M. und sein Roman »Manetti lesen oder vom guten Leben«

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Rätsel fangen schon beim Autor an. P.M., 1947 geboren, arbeitet in Zürich und schreibt seit Jahrzehnten unter seinem Pseudonym, das er von den am häufigsten im Züricher Telefonbuch der 80er Jahre vorgekommenen Initialen abgeleitet hat. Ein Rätselspiel auch sein Roman »Manetti lesen«. Darin geht es um das zwölfbändige, 2400 Seiten umfassende Tagebuchwerk eines gewissen Roberto Manetti und mehr noch um das Verschwinden all derer, die es gelesen haben. Das sind allesamt Personen aus dem arrivierten linksalternativen Politik- und Kulturspektrum der Schweiz. Wurden sie entführt oder gibt es einen geheimen Code in den Tagebüchern, mit dem sie irgendwohin geleitet wurden? Der Ich-Erzähler des Romans, ein Schriftsteller namens Paul Meier, versucht es herauszufinden. Seine Recherchen führen ihn von Zürich über Berlin, Lissabon und New York bis nach Brasilien.

Dabei fächert P.M. ein Panorama linker Geschichte und linker Identitäten der letzten 35 Jahre auf. Das fiktive Tagebuch Manettis wirkt für alle Beteiligten wie ein Prisma, um die eigenen, von der kapitalistischen Realität an den Rand gedrängten Wünsche und Utopien wiederzuentdecken.

Während der Ich-Erzähler den Spuren der Vermissten durch ganz Europa folgt, trifft er jede Menge reicher, umweltbewusster Menschen, die in schicken Villen und großstädtischen Apartments ihr ökologisches Gutmenschentum ausleben - unberührt von der Wirtschaftskrise, die als abstrakte Bedrohung am Horizont dräut. Dennoch steht der Kapitalismus in zahlreichen Gesprächen dieses dialogreichen Romans auf dem Prüfstand. Paul Meier erinnert sich an die autonomen Opernhauskrawalle 1980 in Zürich, die Hausbesetzerbewegung und verweist darauf, dass Robert Kurz den großen Crash schon vor Jahren vorhergesagt hat. Aus dem anarchokommunistischen Manifest »Der kommende Aufstand« wird ebenfalls reichlich zitiert.

Nach einer spannenden Suche, langen Diskussionen und der Lektüre von Manetti wird dem Ich-Erzähler irgendwann in einem New Yorker Viertel eins über den Kopf gezogen. Kurze Zeit später erwacht er auf einem Segelschiff und schippert über den Atlantik, um in der brasilianischen Pampa die versammelte Züricher verbürgerlichte alt-linke Szene zu treffen. Dort in einem jenseitigen modellhaften Ort wird ein post-kapitalistisches Leben ausprobiert - recht erfolgreich, aber nur auf der ursprünglichen Investition eines reichen Gönners basierend. Ein bisschen liest sich das, als wäre die westeuropäische Toskana-Fraktion im linksradikalen tropischen Rentnerhimmel angekommen. Das ist in seiner bilderbuchhaften Art zwar etwas platt, aber auch so dreist, dass es schon wieder gut ist.

Das Konzept einer dezen-tralen föderalen, nicht-kapitalistischen Lebensweise findet sich schon in P.M.s 1983 veröffentlichtem Buch »bolo bolo«, ein anarchistisch-utopisches Handbuch zur Organisierung gegen-gesellschaftlicher Lebenswelten, das in der linken Szene der 80er fleißig rezipiert wurde. Dazu passt der 70-seitige Essay von P.M., der jetzt ebenfalls bei Nautilus erschien. Darin wird eine nicht auf Profit, sondern auf Allgemeingüter, die »commons«, basierende, dezentral organisierte Ökonomie entworfen. Wissen ist für diese neue Ökonomie ebenso wichtig wie eine Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern - deshalb der Titel »Kartoffeln und Computer«. Der leichtgängige Text, der sich nicht in akademischen Debatten verliert, soll nicht als politisches Programm missverstanden, sondern als Denkanregung genutzt werden. Ein direkter Bruch mit der kapitalistischen Ordnung wird explizit nicht gefordert, vielmehr ginge es darum, »Werte, Überzeugungen und Verhaltensweisen« unabhängig von gängigen politischen Praktiken zu nutzen.

In der Fiktion des Romans klappt das ausgezeichnet, wie es mit der Realität aussieht, muss sich noch erweisen.

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