Ist Hartz IV Armut?

Michaela Hofmann ist Caritas-Sprecherin zum Thema Armut

  • Lesedauer: 3 Min.

nd: Als Mitglied der Nationalen Armutskonferenz haben Sie gestern den Schattenbericht zum 4. Armutsbericht der Bundesregierung veröffentlicht. Warum jetzt?
Hofmann: Wir haben den Bericht herausgebracht, weil sich Armut immer mehr verfestigt, während Reiche immer reicher werden. Im Bericht der Bundesregierung sind zwar Daten und Fakten vorhanden, aber teilweise auch Tendenzen, die wir nicht teilen. Wir wollten die Menschen, die arm sind, selber zu Wort kommen lassen.

Welche Ursachen von Armut zeigt die Bundesregierung nicht auf?
Der Arbeitsmarkt wird von der Bundesregierung zu positiv dargestellt. Es gibt einen verfestigten Armutsbereich, in dem Menschen, die Arbeit suchen, keine Chance haben, welche zu finden. Der Niedriglohnbereich ist sehr groß, und noch immer erlangen viele Menschen keinen Hauptschulabschluss. Die Bundesregierung beschreibt das alles tendenziös in die Richtung, dass alle Menschen die Möglichkeit hätten, Arbeit zu finden, sie diese nur nicht nutzten.

Ist Hartz IV auch ein Grund für Armut?
Hartz IV ist Armut. Anders kann man das nicht ausdrücken, weil ein Alleinstehender mit 374 Euro im Monat nicht über die Runden kommen kann. Wir haben alle möglichen Preisanstiege - wie jetzt bei den Energiekosten - die mit ALG2 nicht aufgefangen werden.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert 420 Euro Regelsatz für ALG2-Bezieher. Gibt es eine Höhe, die Sie als bedarfsdeckend ansehen?
Eine konkrete Summe festzulegen, halte ich für recht schwierig. Wichtiger ist es herauszufinden, was die Menschen tatsächlich brauchen. Da müsste das gesamte System der Regelsätze noch mal überprüft werden. Bei der letzten Berechnung hat mich geärgert, dass man den ALG2-Beziehern quasi das Recht abgesprochen hat, Gaststätten zu besuchen oder mal ein Bier zu trinken.

Wie äußert sich Armut?
Armut ist sehr vielfältig. Es gibt Menschen, die sämtliche soziale Kontakte verlieren. Andere arbeiten sehr viel und haben drei, vier Jobs. Immer mehr Menschen werden körperlich oder psychisch krank. Auch die Selbstmordrate von Arbeitslosen ist höher als bei Erwerbstätigen. Das hängt damit zusammen, dass über wenig Geld zu verfügen bedeutet, häufig keine Perspektive zu sehen, an der Gesellschaft als vollwertiges Mitglied teilhaben zu können.

Die Mieten werden immer teurer, fallen so immer mehr Menschen selbst aus dem Hartz-IV-System?
Auf jeden Fall fällt es immer mehr Menschen - auch vielen, die arbeiten gehen - schwerer, ihre Miete zu bezahlen. Wir haben einfach zu wenig preiswerten Wohnraum. Das wurde durch den Verkauf städtischer Immobilien und der geringen Förderung des sozialen Wohnungsbaus selbst verursacht.

Gibt es mehr Obdachlosigkeit?
Das können wir nicht genau sagen, weil es leider keine offizielle Studie dazu gibt. Wir können nur aus den Erfahrungen in unseren Einrichtungen sagen, dass das Problem größer wird. Leider werden auch mehr Jugendliche wohnungslos. Um den jungen Wohnungslosen eine Chance zu geben, benötigen wir unter anderem mehr Streetworker.

Fragen: Simon Poelchau

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal