Ihr letztes Gefecht?

Sie sind alt. Doch als »Palisaden-Panther« kämpfen sie nicht nur gegen ihre Mieterhöhungen, sondern für eine soziale Stadt

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 9 Min.

Die Kämpfe des Lebens hätten sie hinter sich - dachten sie. Sie dachten es bis zum 19. Juli 2012. An diesem Tag teilte ihnen ihr Vermieter mit, dass er sich gezwungen sehe, ihre Mieten zu erhöhen. Statt fünf Euro für den Quadratmeter sollten sie demnächst 12 Euro zahlen. Wovon denn?

Die Rede ist von den Bewohnern der Häuser Palisadenstraße 41 bis 46 in Berlin. Bei diesen Häusern handelt es sich um moderne Siebengeschosser, die im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus, also mit Steuergeldern, speziell für Senioren und Behinderte gebaut wurden. Ende 1997, Anfang 1998 konnten 124 gut geschnittene, behindertengerecht ausgestattete Anderthalb- und Zwei-Raum-Wohnungen bezogen werden. Und das war auch gut so.

Dann kam das Jahr 2003. Damals beschloss der rot-rote Senat, die sogenannte Anschlussförderung für den sozialen Wohnungsbau schrittweise einzustellen - jeweils 15 Jahre nach Fertigstellung eines Objekts. Die Häuser der Berliner Palisadenstraße 41 bis 46 traf es dieses Jahr. Wie genau der Wegfall der Förderung mit der Explosion ihrer Mieten zusammenhängt und was er sonst noch für ihre Wohnanlage bedeutet, wurde den meisten Bewohnern allerdings erst nach und nach klar. Es ist ja auch nicht ganz leicht zu durchschauen, man muss sich richtig reinfitzen.

Die 78-jährige Eve-Marie John gehört zu denen, die das getan haben. Sie kann den Vorgang so erklären, dass man ihn einigermaßen versteht: Der jetzige Eigentümer, die WB Immobilien Palisadenstraße GmbH & Co KG, erhielt bisher von der Stadt Zuschüsse auf die realen Mietkosten, auch Kostenmiete genannt. Diese schließt auch die Rückzahlung der für den Bau aufgenommenen Kredite ein. Da die Zuschüsse seit November ausbleiben, kann der Eigentümer die Kostenmiete nun von seinen Mietern einfordern. Und es kommt noch besser: Mit dem Wegfall der Anschlussförderung ist der Eigentümer auch nicht mehr an die jetzige Mietklientel gebunden. Je mehr Bewohner nicht zahlen können und deshalb ausziehen, desto besser für ihn. Aber dazu später.

Das Land wieder aufgebaut

Eve-Marie John schluckt: Sie kann den Vorgang zwar verstehen, aber nicht begreifen. So wenig wie ihre Mitstreiter. Sieben alte Männer und Frauen, die - jetzt noch - in den Häusern Palisadenstraße 41 bis 46 wohnen, haben sich an diesem Tag versammelt. Manchmal, wenn es die Gesundheit erlaubt, kommen 15 Leute zu ihren Besprechungen: der harte Kern. Sie nennen sich »Palisaden-Panther«, seit jenem 19. Juli 2012 sind sie zusammengerückt. Obwohl sie so verschieden sind, eine bunte Truppe. Sie wollen auch für die sprechen, die nicht mehr für sich selbst sprechen können. »Unsere Generation ist die, die das Land nach dem Krieg wieder aufgebaut hat«, sagen sie selbstbewusst, »eine Schande, wie man jetzt mit uns umgeht.« Sie reden darüber, was sie dem Land gegeben haben: ihre Kraft, ihre Leistung.

Der erste Kampf: Überlebenskampf. Kinder waren sie noch, Jugendliche. Flucht aus Pommern, auf dem Treck allein mit Müttern und Geschwistern. Oder im Wedding ausgebombt und verschüttet, in den Sudetengau evakuiert, von dort zu Fuß zurück nach Berlin, bei jedem Schritt in Todesangst, als jüdischer Junge erkannt zu werden. Oder im eiskalten Nachkriegswinter 46/47 auf dem Heimweg von der Schule über einen Toten stolpern, der verhungert oder erfroren ist. Als junge Stahlwerkslaborantin in Freital ohne Arbeit dastehen, weil »die Sowjets das Stahlwerk mitnehmen« ...

Sie haben ihr Leben lang gekämpft. Eve-Marie John ist in der DDR Chemieingenieurin geworden, hat dann in einem Projektierungsbüro gearbeitet, zuletzt im Ministerium für Erzbergbau. Sie sagt: »Dort haben wir Großes geleistet, zum Beispiel das neue Eisenhüttenkombinat in Eisenhüttenstadt mit modernster Technik ausgestattet.« Anneliese Böttner, die ehemalige Stahlwerkslaborantin aus Freital, lernte Russisch und wurde Dolmetscherin. Später hat sie mit ihrem ersten Mann, einem Walzwerkingenieur, eben jenes Kombinat in Eisenhüttenstadt mit aufgebaut. Werner Nuhsbeutel, 72, verglaste, bevor er seinen Industriekaufmann machte, als Glaser im Wohnungsbaukombinat Rostock Tausende Fenster - für Lütten Klein, Groß Klein und Evershagen. Er selbst musste mit seinem Kind lange in einer alten Wohnung mit niedrigstem Standard ausharren, bevor er eine bessere bekam. Heute ist er 72.

Wolfgang May, der Junge aus dem Wedding, der aus dem Sudetengau zu Fuß zurück nach Berlin gelaufen war, entschied sich nach dem Krieg dafür, in der Ostzone zu leben. Er trat in die FDJ ein, wurde Gefreiter der NVA, zum Schluss hatte er den Dienstrang eines Oberst inne. »So lange es die NVA gab«, sagt er, »war weder sie noch die Bundeswehr an irgendeinem Krieg beteiligt.« Nach einer Herzoperation und einem Schlaganfall sitzt er heute im Rollstuhl, die Wohnung in der Palisadenstraße hat ihm das Pflegeheim erspart. Und Elvira, seine Frau, war froh darüber. Sie waren Weggefährten und sind es noch immer. Auch Elvira May, 77, kann stolz auf ihr Leben sein. Ihren beruflichen Werdegang hat sie als Heimerzieherin mit Lehrbefähigung begonnen - im Kinderheim A. S. Makarenko in Berlin-Johannistal. Das Kinderheim »Königsheide« galt als Vorzeigeeinrichtung der noch jungen DDR: Der Stadt knurrte noch der Bauch, doch für die Kriegswaisen, Kinder berufstätiger Alleinerziehender oder vielbeschäftigter Künstler gab es dort Milch, Butter und Fleisch. »Durch meine Hände sind auch drei eigene Kinder, sieben Enkel und drei Urenkel gegangen«, erzählt Elvira May, »für die jüngsten, wenn sie aus der Schule kommen, koche ich heute noch jeden Tag.«

Der Westberliner Schüler, der sich eines nachmittags einem Toten gegenübersah, sitzt wie der Oberst a.D. im Rollstuhl. Zwei Schlaganfälle haben ihn niedergestreckt, doch weder seinem scharfen Verstand noch seinem Humor etwas anhaben können. Karl-Heinz Volck, heute 77, ist zunächst Werkzeugmacher gewesen, hat dann zur IG Metall gefunden, wo er als Rechtsanwalt für Arbeits- und Sozialrecht ungezählte Kollegen vertrat; 17 Jahre lang hat er schließlich die IG-Metallschule in Berlin-Spandau geleitet. »Mein Leben war nicht umsonst«, resümiert er. Hat er die Gesellschaft besser gemacht? Ein mildes Lächeln umspielt seine Lippen: Er sei zu alt, um das glauben zu können. Dann, auf den Anlass des Treffens zurückkommend, sagt er: »Ich bin sowieso nicht mehr lange hier.« Mit »hier« meint er: auf der Welt. Wieso kämpft er dann mit den anderen? Wieso haben sie alle noch einmal diesen letzten Kampf aufgenommen? Karl-Heinz Volck spricht für die Runde: »Weil wir es gewöhnt sind, zu kämpfen. Weil es nicht allein um uns geht. Es geht darum, dass die Stadt sozial bleibt, Arme nicht an den Rand gedrängt werden.«

Politische Lösung muss her

Ihr letztes Gefecht. Sie haben die Mieter und die Öffentlichkeit mobilisiert, sich mit anderen Initiativen wie denen vom Kottbusser Tor und aus Pankow vernetzt. Im August sind die Palisaden-Panther mit 30 Mann ins Abgeordnetenhaus eingerückt. Vorbereitet hatten sie die Aktion mit Aushängen wie diesem: »Dafür stehen kostenlos zwei Autos vom Sonderfahrdienst für Menschen mit Behinderung bereit. Mit diesen Autos können 4 elektrische Rollstühle und 6 weitere Mieter, die schlecht zu Fuß sind, befördert werden. Abfahrt: 9.15 Uhr. Mieter, die noch laufen können, nehmen bitte die öffentlichen Verkehrsmittel. Dabei sollten die Fahrausweise, die ein ›B‹ enthalten, genutzt werden, um einen weiteren Mieter als Begleitperson mitnehmen zu können. Treffpunkt: 8.15 Uhr.« Von den Oppositionsparteien empfingen sie dann nur Vertreter der LINKEN, Grüne und Piraten fühlten sich noch nicht ausreichend informiert. Das waren sie dann Ende September, es kam zu einer Anhörung. Katrin Lompscher, wohnungspolitische Sprecherin der LINKEN im Abgeordnetenhaus, sagte jetzt gegenüber »nd«: »Aus der Opposition heraus kann man nicht so viel erreichen. 2003, als wir angesichts der hohen Verschuldung Berlins das Ende der Anschlussförderung mit beschlossen, haben wir nicht geglaubt, dass sich die Mieten so dramatisch entwickeln.« Der Makel, Berlin ein Stück unsozialer gemacht zu haben, wird an Rot-Rot haften bleiben.

Inzwischen halten die Bewohner der Häuser Palisadenstraße 41 bis 46 ihre Mieterhöhungen in Händen. Nicht zwölf Euro betrage die Kostenmiete, heißt es in den Bescheiden, sondern 13,40 beziehungsweise 13,47 Euro pro Quadratmeter. Vorerst allerdings solle es bei 7,60 Euro bleiben. Der »harte Kern« könnte das gerade noch aufbringen, mancher Nachbar aber schon nicht mehr. Acht Mietparteien sind bereits ausgezogen, andere packen.

Das letzte Gefecht läuft dieser Tage eher auf Krisenmanagement hinaus. Nach der Anhörung im Abgeordnetenhaus können Mieter, die über ein geringes Einkommen verfügen, älter als 70 und zu 80 Prozent schwerbeschädigt sind, eine sogenannte Härtefallregelung in Anspruch nehmen. Ihnen, so erklärt es Eve-Marie John, gewährt die Investitionsbank Berlin Zuschüsse - jedes Jahr 20 Prozent weniger, drei Jahre lang, danach nicht mehr. Und auch nur bis zum mittleren Mietspiegel, das heißt, so lange die Mieten nicht weiter steigen. 50 Mieter haben sich »offenbart«. Um in den »Genuss« der Härtefallregelung zu kommen, mussten sie etliche Erklärungen und Dokumente einreichen. Da die wenigsten noch in der Lage sind, die nötigen Gänge zu erledigen, haben die Palisaden-Panther Ende Oktober das Bürgeramt kurzerhand ins Haus geholt: »Das hätten Sie sehen müssen. Die vielen Alten, die Rollstühle, das ganze Elend.« Am vergangenen Donnerstagabend hat die Linksfraktion im Abgeordnetenhaus den Antrag eingebracht, die Härtefallregelung auf ein Jahr zu begrenzen und in diesem Zeitraum eine »nachhaltige« Lösung zu finden. Der Antrag wurde in den Ausschuss Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und in den Hauptausschuss verwiesen.

»Wir sitzen auf einer Bombe«

In den Mieterhöhungsbescheiden hat der Eigentümer der Häuser seine »Kulanz«, nicht sofort die vollständige Kostenmiete zu verlangen, wie folgt erklärt: »Der Eigentümer ist sich seiner sozialen Verantwortung bewusst und steht noch in Verhandlungen mit dem Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuz- berg, um eine dauerhafte und faire Lösung sowohl für die Mieterschaft als auch für den Eigentümer selbst zu finden. Auf freiwilliger Basis und ohne rechtliche Verpflichtung reduziert der Eigentümer ihre Mieterhöhung. Die Reduzierung der Mietzahlungsverpflichtung erfolgt in jedem Einzelfall freiwillig und ohne Rechtsanspruch der Mieter für die Zukunft. Sie kann vom Eigentümer nach freiem Ermessen widerrufen werden.«

Soziale Verantwortung? Die Palisaden-Panther wissen, bei den Verhandlungen mit dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg verfolgt der Eigentümer ein Ziel: Er will frei werdende, also leer gezogene Wohnungen in ihrer Anlage in teure Gästewohnungen für Touristen umwandeln. Um den Wohnraum gewerblich nutzen zu dürfen, braucht er die Einwilligung des Bezirks, und die will er sich mit dem vorläufigen Verzicht auf die volle Kostenmiete erkaufen. Karl-Heinz Volck sagt: »Die Volksvertreter müssen beweisen, dass sie das Volk und nicht das Kapital vertreten.« Noch hat Friedrichshain-Kreuzberg die Gästewohnungen nicht genehmigt. Sollte sich der Stadtbezirk dazu entschließen, könnte nichts mehr den Eigentümer hindern, die volle Kostenmiete zu nehmen. »Wir sitzen auf einer Bombe«, sagt Wolfgang May. Und: »An diesem Samstag, bei der Großdemo am Kotti gegen steigende Mieten und Verdrängung sind wir mit vier Rollstühlen dabei. Ich selbst werde am kommenden Dienstag auf der von Kotti & Co und dem Berliner Bündnis Sozialmieter.de organisierten Konferenz zum sozialen Wohnungsbau unsere Sicht auf die Dinge einbringen.«

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