Goldfieber in London
Was Olympia und Paralympics aus den Briten machten
Ein Besuch bei Tante Ruth musste sein. Die Olympischen Spiele von London waren ziemlich genau eine Woche alt, da fuhr ich zum Abendessen ins beschauliche Kew Gardens im Westen der Stadt. Einmal Luft schnappen vom Olympiahype, vom Trubel, von der Lautstärke im Velodrom oder dem Fahnenschwenken im Aquatics Center. Tante Ruth war nie ein großer Sportfan, ist Gegnerin jeglicher Form von Nationalismus und außerdem eine gute Köchin. Das sollte ein netter, ruhiger Abend werden.
Schon bei meiner Ankunft läuft der Fernseher: Siebenkämpferin und Volksheldin Jessica Ennis aus Sheffield ist gerade zu Gold gelaufen, und Tante Ruth läuft ständig zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her. Bloß nicht das Siegerinterview verpassen, bloß nichts anbrennen lassen. Eine knappe halbe Stunde später springt der mir völlig unbekannte Brite Greg Rutherford weiter als alle anderen. Wieder »Gold for Britain!«. Während ich genieße, wird das Essen von Ruth und ihrem Mann John schon kalt. Beide schauen lieber fern. Nachdem weitere 20 Minuten später auch noch Mo Farrah über 10 000 Meter gewinnt, sprechen beide an dem Abend, den ich mir etwas anders vorgestellt hatte, über nichts anderes mehr als die Großartigkeit des britischen Sports.
Sechs Goldmedaillen sammelten die Gastgeber an jenem Tag. Die Geschichte der Deutschen Lilli Schwarzkopf, die zunächst disqualifiziert wurde und dann hinter Ennis doch noch Silber gewann, interessierte Tante Ruth nicht. Sie war im Goldfieber.
Diese Olympischen Spiele und die folgenden Paralympics waren mehr als Sportveranstaltungen. Sie waren Volksfeste. Tante Ruth versuchte täglich, Tickets zu bekommen, um nur einmal dabei zu sein. Egal, ob Leichtathletik oder Bogenschießen. Hauptsache dabei, Hauptsache Teil dieser Glücksgeschichte sein. Leider vergeblich. Und trotzdem verbreiteten die Spiele Ekstase in einem eher biederen Völkchen. Davon gab es kein Entkommen. Warum auch? Dafür ist Sport da. Und geschmeckt hat es auch.
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