Den Geist aufgegeben

Roger Vontobel inszenierte in Dresden Shakespeares »Hamlet«

  • Ingolf Bossenz
  • Lesedauer: 6 Min.
Im Roman »Mein Wahnsinn ist meine Insel« porträtiert die französische Philosophin Isabelle Prêtre den Denker Friedrich Nietzsche, nachdem der Wahnsinn von ihm Besitz ergriffen hat. Aber, so Prêtre, nur für seine Außenwelt. Nietzsche nutzt demnach die psychiatrisch-publike Pose dazu, mit letzter Klarstellung, frei von verhüllender Verstellung seiner selbst und der anderen, den wahren Wahn der Welt zu beobachten und - zu genießen.

Dass Nietzsche wirklich dem Wahn verfiel, daran gibt es - im Unterschied zu Hölderlin - nichts zu deuteln. Den umgekehrten Fall stellt Hamlet dar. Dass des Prinzen von Dänemark Tollheit nur Methode ist, den vom Geist des ermordeten Vaters empfangenen Racheauftrag zu erfüllen, ist Konsens der Kommentatoren. Denn die Erscheinung des Geistes ist von William Shakespeare gleichsam objektiv angelegt. Nicht nur Hamlet, auch andere haben ihn gesehen, hernach von Hamlet zum Schweigen eingeschworen.

Regisseur Roger Vontobel (1977 in Zürich geboren) hat nun den Geist aufgegeben: In seiner Inszenierung am Staatsschauspiel Dresden ist der »Geist von Hamlets Vater« nicht besetzt. Was bleibt, ist das Bild des verstorbenen Dänenkönigs auf riesigen, die Bühne flankierenden Postern mit der Aufschrift »Tribute to my father«. Und er ist präsent im Kopf dessen, der dieses tribute, diese Ehrung, vollzieht: Hamlet. Konzentriert, kongenial und kräfteverschleißend gespielt (und gesungen) von Christian Friedel.

Vontobel instrumentiert und instrumentalisiert die revolutionäre Geist-Losigkeit seines Hamlet virtuos. Nicht nur in dem grell-grandiosen Rockrequiem, das sich über die Hälfte des gut dreistündigen Stücks erstreckt (Christian Friedel und die Gruppe Woods Of Birnam). Hamlet beruft sich auf den Geist des Vaters, er besingt, er beschwört, er beschreit ihn. Zwar sitzt dieser Geist nur in seinem eigenen Geist, flüstert ihm aber gleichwohl die bekannte krude Kunde ein: der Mord am Vater, begangen von dessen Bruder Claudius (majestätisch-jovial: Torsten Ranft), der Thron und Witwe Gertrud (fürsorglich-feminin: Hannelore Koch) usurpierte, dieser Mord ist zu rächen. Ob Hamlet weitere Zeichen, Indizien oder gar Beweise für das Verbrechen hat - wir erfahren es nicht. Hamlets Freund Horatio (loyal-verlässlich: Sebastian Wendelin) weiß auch nicht mehr. Es gibt auch kein einsames Schuldeingeständnis des Claudius. »Oh, meine Tat ist faul, sie stinkt zum Himmel«, kommt hier nicht von ihm, sondern von Hamlet selbst. Als Reflexion seiner grausen Grübeleien, projiziert auf den gehassten Onkel. Das verblüfft und verstört.

Bei Vontobel hat das Methode. Denn sein Hamlet ist ein durchaus texttreues Stück. Sie sind da, die alt-vertrauten Schlegel-Zeilen; doch wann und wie sie kommen, wer sie spricht und zu wem, das ist spannend, überraschend und beweist erneut, dass dieses Drama Shakespeares weder Grenzen kennt noch Überdruss erzeugt, nicht im Spiel, nicht in der Interpretation, nicht in der Zeit.

Schuld und Sühne, zentrale Themen des Trauerspiels, werden so auf einmal obsolet. Denn wenn es Schimären sind, die Hamlet drücken und drängen; die ihn Unheil über den Hof von Helsingør bringen lassen; die ihn zum Mord am Oberkämmerer Polonius (ambitiös-intrigant: Ahmad Mesgarha) treiben und die seine Mitwirkung an Ophelias (verletzlich-verzweifelt: Annika Schilling) Umnachtung und Tod begründen - wenn es Schimären sind, ist nicht nur der Wahn ohne Sinn, dann gibt es auch weder Schuld noch Schuldige. Dann gibt es nur Opfer.

Dieses tückische Wenn zieht sich durch die gesamte Aufführung. Und das erzeugt Spannung, die den Verlauf, das nächste Handeln betrifft; eine Spannung, die Hamlet geeignet haben mag, als er vor über 400 Jahren erstmals, vom Publikum noch ungekannt, auf die Bühne kam. Es sind die Worte, die Emotionen, der Showdown, das Ende, dessen Rest Schweigen ist. Doch da ist nur Hamlet, der diesen Kampf - kämpft? Nein, spielt. Denn er ist kein Kämpfer. Er ist ein Denker, ein Grübler, ein Zweifler, ein Verzweifelter. Und vor allem ein Spieler, der bereit ist, alles aufs Spiel zu setzen: seine Karriere, seine Liebe, sein Leben. Er spielt sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode. In seinem reißenden und mitreißenden Spielstrom macht Christian Friedel diese Szene zum ultimativen Strudel, in dem Hamlet, seine Welt und sein Wahn versinken und alle Spannungen sich auflösen. Dieser Wahnsinn ist keine Insel, sondern das alles verschlingende Meer.

Am Schluss die Aufforderung, Hamlet auf die Bühne zu tragen »gleich einem Krieger«. Ausgesprochen hier nicht vom neuen Herrscher Fortinbras, sondern von König Claudius, der die Tragödie überlebt hat - wie seine Frau Gertrud, wie Polonius' Sohn Laertes (elegant-ungestüm: Matthias Reichwald) und wie das spitzelnde Höflingspaar Rosenkranz und Güldenstern (devot-beflissen: Jonas Friedrich Leonhardi und Benedikt Kauff).

Was ist Wahrheit? Auch die Frage des Pontius Pilatus, die Jesus mit Schweigen beantwortete, durchdringt den Hamlet wie ein wuchernder Krebs. Sein oder Nichtsein? Schein oder Sein? Last oder List? Wahn und Wahrheit werden zu Dioskuren, die sich aufeinander beziehen und bedrängen. Hamlet, herausschreiend, dass etwas faul ist im Staate Dänemark, Auskunft verlangend, warum »Tag für Tag Geschütz gegossen und in der Fremde Kriegsgerät gekauft« wird, sieht sich konfrontiert mit dem »Realpolitiker« Claudius.

Claudius will nur das Beste für den Staat, will ihn stark machen und wehrhaft. Auch für Hamlet will er nur das Beste. Sein Nachfolger soll er werden, nicht trauern um seinen toten Vater und dieser Trauer in ausufernder Spielkunst frönen. So wie Polonius und Laertes das Beste für Ophelia wollen, die der Liebe zu Hamlet entsagen muss und damit bereits an ihrem eigenen Grab schaufelt (Vontobel folgt dieser Konsequenz, indem er Annika Schilling auch den Totengräber spielen lässt).

Alle wollen das Beste, aber wer will das Gute? »Grausam bin ich nur, um gut zu sein«, verkündet Hamlet, der in Vontobels Inszenierung ebenso zwielichtig dasteht wie seine wirklichen und vermeintlichen Widersacher.

Der dramatischen Mischung Shakespeare/Vontobel, die Neues zu Altem führt, überspült und zu Anderem macht, zeigt sich die Bühne (Claudia Rohner) ebenbürtig, deren mobile Balkonwand Szenen parallelisiert, überblendet, polarisiert, die Oben und Unten, weite Räume und intime Nischen stimmig komponiert. Dadurch wird nicht nur die »Mausefalle« zum im Stück verschränkten Sub-Theater. Der Zuschauersaal erweitert sich, wenn in den Bühnenlogen der Hof dem Spiel Hamlets folgt. Und der Saal wird zur expandierenden Bühne, wenn der Applaus jenseits der Rampe diesseits aufgenommen wird. Bühne und Schauspieler, Saal und Publikum korrespondieren bei dieser Orgie der Sinne spürbar.

Solche Zweideutigkeit ist zugleich stimmig mit der Zwielichtigkeit, die hier die klassische Hamlet-Frage ersetzt, warum dieser nicht handelt. Denn das Handeln, der Vollzug der Rache, wird zum eigentlich Frag-Würdigen. Die Antwort indes muss sich jeder selbst geben. Gemäß der Shakespeareschen Aufforderung: »Ergänzt mit den Gedanken unsre Mängel, / Zerlegt in tausend Teile einen Mann, / Und schafft ein Heer in eurer Fantasie ...« Vontobels »Hamlet« in Dresden bietet dafür beste Bedingungen.

Nächste Vorstellung: 6. Dezember

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