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Der Riss in der Platte

Erdbeben im Indischen Ozean lässt Geophysiker Risiken am nordamerikanischen San-Andreas-Graben neu überdenken

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 4 Min.

Es war das zehntstärkste Erdbeben der vergangenen hundert Jahre. Doch obwohl es mit einer Magnitude (Stärke) von 8,6 nur wenig schwächer war als das verheerende Beben vor Japan im März 2011, schaffte es der gewaltige Erdstoß im Indischen Ozean am 11. April 2012 nicht in die Schlagzeilen. Der Grund ist einfach: Anders als in Japan und 2004 im nahen Sundagraben gab es durch das Beben selbst nur wenige Sachschäden und eine nur wenige Zentimeter hohe Flutwelle.

Bei Geophysikern allerdings hat das Erdbeben - anders als bei den Journalisten - seither für eine rege Publikationstätigkeit gesorgt. Denn es ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. Erdbeben mit Stärken über 8 finden in der Regel an jenen Stellen statt, wo sich eine Kontinentalplatte unter eine andere schiebt, in sogenannten Subduktionszonen. Da die beiden Platten wie ein Hobel an einer harten Stelle im Holz manchmal länger hängen bleiben, kommt es dort hin und wieder zu ruckartigen Bewegungen - den Erdbeben. Dabei werden immer mal wieder auch Stärken von mehr als 9,0 erreicht. Und weil es dann zu vertikalen Bewegungen der Platten kommt, werden dann große Wassermengen in Bewegung gebracht - wie Weihnachten 2004 vor Sumatra und Thailand und im März 2011 im Pazifik vor Japan.

Doch an der Stelle im Indischen Ozean, wo im April der Meeresboden bebte, gibt es nur eine zum Teil 45 Millionen Jahre alte Bruchzone, wo sich zwei benachbarte Bereiche horizontal aneinander entlangschieben. Die Erdbebenforscher nennen das »Slip-Strike«. Bei mehreren Erdstößen mit Magnituden von 7,8 bis 8,5 brachen wenigstens vier unterseeische Verwerfungen auf. Die außergewöhnliche Stärke des Bebens ist für ein Forscherteam um Keith Koper von der University of Utah in Salt Lake City ein weiterer Beleg dafür, dass die Indoaustralische Platte langsam zerbricht, wie die Geowissenschaftler im Fachjournal »Nature« (DOI: 10.1038/nature11520) erklären. Grund dafür ist nach Ansicht von Thorne Lay von der University of California in Santa Cruz, dass sich der nördliche, indische Teil der Platte langsamer bewegt, weil er auf die große Eurasische Platte stößt, während der australische Teil sich vergleichsweise schnell unter die Sundaplatte schiebt, wobei möglicherweise die schmierende Wirkung des Wassers hilft. Die Geschwindigkeitsunterschiede sind dabei beachtlich: Richtung Himalaja geht es mit zwei bis drei Zentimetern jährlich voran, während der australische Teil sich mit fünf Zentimetern im Jahr auf Indonesien zubewegt. Zudem könne die alte Bruchzone durch schwere Erdbeben anderswo wieder aktiviert worden sein, schreiben die Forscher. Koper nennt vor allem das Sunda-Andaman-Beben von 2004 als Auslöser des Erdbebens vom April dieses Jahres.

Ungewöhnlich ist auch noch ein weiterer Aspekt des Bebens, den ein Team um Fred F. Pollitz vom »US Geological Survey« untersucht hat. Das stellte nach Sichtung der seismologischen Messungen weltweit fest, dass es in den sechs Tagen nach dem Erdbeben im Indischen Ozean eine ungewöhnliche Häufung von Erschütterungen mit Magnituden von 5,5 bis 7,0 gegeben hat.

Für Koautor Roland Bürgmann von der University of California in Berkeley ist das Beben vom April »eines der seltsamsten Erdbeben, das wir je beobachtet haben«. Es sei zwar wie jenes, das 1906 San Francisco zerstörte, ein »Slip-Strike«-Beben gewesen, doch habe es 15 Mal so viel Energie freigesetzt. »In einem dicht besiedelten Gebiet hätten die Folgen katastrophal sein können«, meint Bürgmann. Die unerwartete Stärke erklärt sich Bürgmann mit dem Umstand, dass gleich mehrere Verwerfungen gleichzeitig in Bewegung kamen.

Der Erdbebenforscher Rainer Kind vom GeoForschungsZentrum Potsdam verweist im Gespräch mit »nd« darauf, dass solche Brüche in bestehenden Kontinentalplatten und Plattengrenzen mit ähnlichen horizontalen Bewegungen auch anderswo vorkommen. Er nennt die nordanatolische Störung, die sich östlich von Istanbul durch die Türkei zieht und den Ostafrikanischen Grabenbruch, wo ebenfalls bestehende Platten aufreißen. Besondere Aufmerksamkeit verdiene die San-Andreas-Verwerfung in Kalifornien südlich von San Francisco. Dort schieben sich - ähnlich wie im Epizentrum des Bebens im Indischen Ozean - zwei Platten aneinander entlang: die Nordamerikanische und die Pazifische.

Bislang nahmen die meisten Seismologen an, an solchen Plattengrenzen seien Beben mit Magnituden über 8,0 unwahrscheinlich. Doch das Erdbeben vom April sei ein Grund, diese Annahme neu zu überdenken, meint der Potsdamer Geophysiker Kind. Auch für andere dicht besiedelte Gebiete an ähnlichen Störungen innerhalb von Kontinentalplatten müsse man damit rechnen, dass die Erdbeben deutlich stärker ausfallen könnten als bisher beobachtet. In China etwa seien auch die stärksten bislang gemessenen Beben weitaus schwächer gewesen als das Seebeben vom April. Und angesichts der für geologische Verhältnisse extrem kurzen Periode von hundert Jahren, in denen wir die Erdbeben weltweit mit Messgeräten beobachten, könne es schließlich auch bloßer Zufall sein, dass ein derart starkes Erdbeben innerhalb einer Kontinentalplatte jetzt zum ersten Mal gemessen wurde.

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