Das neoliberale Schulden-Regime als Regierungstechnik

Maurizo Lazzaratos „Die Fabrik des verschuldeten Menschen"

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.
Mit der gesellschaftspolitischen und wirtschaftsgeschichtlichen Bedeutung von Schulden hat sich schon David Graeber in seinem Bestseller „Schulden – die ersten 5000 Jahre“ beschäftigt. Mit der Figur des Schuldners und der Beziehung zwischen Gläubiger und Schuldner als festem Bestandteil neoliberaler Politik setzt sich der italienische Philosoph Maurizio Lazzarato in seinem Essay „Die Fabrik des verschuldeten Menschen“ auseinander und konstatiert eine Krise neoliberaler Regierungstechniken.

Heute kommt jeder Mensch mit Schulden auf die Welt. Das französische Baby hat bei seiner Geburt 22.000 Euro Schulden, das deutsche gut 3000 mehr und mit über 30.000 steht das griechische Kleinkind in der Kreide. Maurizio Lazzarato vergleicht dieses Verhältnis mit der christlichen Erbsünde. Stand der Mensch früher bei Gott in der Schuld, so hat er jetzt von Geburt an schuldnerische Verpflichtungen dem Kapital gegenüber. Neben den seit Ende der 70er Jahre steigenden Staatsschulden sind es aktuell vor allem private Schulden, die das Leben von Angestellten, Arbeitslosen und den als Selbstunternehmern organisierten Arbeitskräften prägen.

Das „public deficit spending", die öffentliche Defizitfinanzierung, weicht immer mehr dem „private deficit spending" bzw. wird dadurch ergänzt. Sinkende Löhne und der Abbau von Sozialleistungen soll durch die Vergabe von Krediten an Geringverdiener ausgeglichen werden. Gleichzeitig wird durch Beschäftigungsprogramme den Arbeitslosen nicht mehr nur finanzielle Hilfe zuteil, vielmehr werden sie gezwungen, sich einer Aktivität zu unterwerfen. Die „arbeitenden Armen", wie sie Lazzarato nennt, werden wie Schuldner behandelt, die sich durch einen bestimmten Lebensstil (gehorsame Integrierbarkeit und autoritär abverlangter Fleiß) ihre Minimalzuwendungen verdienen müssen. Die zunehmende Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt und das „Durchreichen" der Verantwortung an die Arbeitskräfte, die sich als Kleinunternehmer selbst organisieren, sind weitere Bestandteile dieser „Schuldübernahme".

Nur wie wirkt sich dieses autoritäre Schuldner-Gläubiger-Verhältnis als Prinzip gesellschaftlichen und ökonomischen Handelns aus? In Anlehnung an Nietzsches „Zur Genealogie der Moral" bezeichnen Gilles Deleuze und Felix Guattari den Kredit als Archetypus gesellschaftlicher Verhältnisse. Erst mit dem Versprechen, etwas zurückzugeben, entsteht ein auf die Zukunft gerichtetes Bewusstsein und gleichzeitig eine moralische Verpflichtung in Form einer Erinnerung (an eben dieses Versprechen). Entsprechend ist „Vertrauen" der zentrale Begriff, der von Politikern ständig benutzt wird, sobald es um Märkte, Volkswirtschaften und die Zahlungsfähigkeit ganzer Gesellschaften geht. Da im Kreditwesen zukünftige Werte gehandelt werden, bietet diese Ausrichtung der Schuldenökonomie auf die Zukunft laut Lazzarato eine Möglichkeit für den Kapitalismus, die zu Schuldnern gewordenen Menschen vorausschauend regierbarer zu machen.

Im Fortlauf der Finanzkrise entsteht aber ein gravierendes Problem. Es geht plötzlich ans Zurückzahlen, was oft unmöglich ist. Dies ist der unangenehmste Moment in der Gläubiger-Schuldner-Beziehung. Die Idee des Eigentümer-Individualismus, der in Sarkozys Wahlkampfwerbung „Alle zu Eigentümer!" und in Bushs Schlagwort der „Gesellschaft der Besitzenden" zum Ausdruck kam, ist mit der Subprime-Krise gescheitert. Hatte der Kapitalismus in den 90ern noch Freiheit, Kreativität und Bereicherung für alle gepredigt, stürzen die mit Krediten aufgebauten Kartenhäuser jetzt in sich zusammen: von den Immobilienblasen in den USA und Spanien über die amerikanischen Bildungskredite, die von den arbeitslosen Jungakademikern nicht mehr bedient werden können bis hin zu dem, was über das Kreditkartenwesen ausgegeben wird.

Dieses Scheitern des Eigentümer-Individualismus zieht laut Lazzarato eine Krise des Regierens nach sich. Der Moment der aufgeschobenen und plötzlich eingeforderten Zahlung erzeugt einen Druck, auf den der Liberalismus sonst verzichtet. Schließlich verschleiert der liberale Kapitalismus das ihm zugrunde liegende Zwangsverhältnis gerne als wettbewerbsorientiertes Spiel der Möglichkeiten. In Deutschland gab es von August 2011 bis Juli 2012 über eine Million Sanktionen gegen Hartz IV-Abhängige. Der Charakter der gesellschaftlichen Machtbeziehungen tritt plötzlich auf ungeschminkte Art hervor, der Staat zeigt Kante. Das illustrieren auch die Gummigeschosse, die von der spanischen Polizei auf Demonstranten abgefeuert werden und die Versammlungsverbote in Frankfurt gegen Blockupy.

Die aktuelle Krise ist auch ein Mittel zur Durchsetzung weiterer Privatisierungen, des Abbaus von sozialen Sicherungssystemen und einer autoritären Disziplinierung der Armen, deren Arbeit eine Inwertsetzung erlebt. Auch wenn die Krise 2007 effektiv gewesen ist, um „die Extraktion des Mehrwerts durchzubuchstabieren", wie Lazzarato sagt, so „handelt es sich um eine Strategie, mit der die neoliberalen Zauberlehrlinge riskieren, die Kontrolle zu verlieren." Dementsprechend schlägt er vor, den derzeitigen Vorgang nicht als Krise, sondern als Katastrophe zu bezeichnen. War der Kapitalismus im 19. Jahrhundert (auch für Marx) noch ein progressistisches Projekt, so kann dies angesichts der aktuellen Entwicklungen kaum mehr gelten. Perspektivisch hilft nur eine Strategie der Verweigerung, so wie sie Griechenland als schlechter Schüler gegenüber der deutsch-französischen Normalisierung praktiziert. Es bleibt die Möglichkeit des widerständigen Protestes.

Maurizio Lazzarato: „Die Fabrik des verschuldeten Menschen", b-books, 148 S., 12.80 €.

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