Frisches vom Vortag

Ein Görlitzer Laden verkauft die Überproduktion aus Bäckereien - das Geschäft läuft

  • Anett Böttger, dpa
  • Lesedauer: 3 Min.
Leben im Überfluss: Viele Bäcker sorgen bis zum Abend für volle Ladentheken, denn Kunden verzichten ungern auf ihr Lieblingsbrot. Überproduktion ist so programmiert. Zwei junge Unternehmer in Ostsachsen sahen darin eine Chance.

Görlitz. Backwaren vom Vortag garantieren ein gutes Geschäft. Das jedenfalls spüren Viktoria Baron und György Kiesewetter in Görlitz Tag für Tag. Im Zentrum der deutsch-polnischen Grenzstadt haben sie im November einen Laden eröffnet, in dem Brot, Brötchen und Kuchen eine zweite Chance bekommen. Um Kunden zu halten, sorgen viele Bäckereien stets für größtmögliche Warenvielfalt - mit dem Risiko, dass sie am Abend auf nicht wenigen Produkten sitzen bleiben. Die beiden Existenzgründer machen nun im Osten Sachsens aus dieser Folge der Wohlstandsgesellschaft eine Tugend.

»Die Idee hat total eingeschlagen«, sagt die 28-jährige Baron über ihr Geschäftsmodell »Frisches vom Vortag«. Ihr 30 Jahre alter Partner startet jeden Nachmittag zu einer etwa 240 Kilometer langen Tour, um in Dresden und Umgebung unverkaufte Backwaren einzusammeln. Acht bis zehn Filialen steuert er zu Geschäftsschluss an.

»Wir haben keinen Einfluss auf das, was wir bekommen«, sagt Kiesewetter. Bisher reichte es immer, um die Auslagen des Görlitzer Ladens gut zu füllen. Brötchen, Brot, Muffins, Brezeln, Pfannkuchen, Croissants oder Streuselschnecken werden noch am Abend in Plastiktüten verpackt - jede gefüllte Tüte kostet dann einen Euro. Jörg Eisold gibt übrig gebliebene Ware an die beiden Jungunternehmer ab, die eigentlich Literatur und Sport studiert haben. Für den Radeberger Bäckermeister war wichtig, dass der Görlitzer Laden weit genug vom Einzugsgebiet seiner Firma entfernt liegt. Eisold betreibt mehr als 20 Filialen im Großraum Dresden. »Die Kunden erwarten am Nachmittag noch eine gut gefüllte Theke«, bestätigt der Chef. Auch Einkaufszentren, in denen sich Bäckereibetriebe mit Filialen einmieten, verlangten meist ein breites Sortiment bis Ladenschluss. Doch die Nachfrage lässt sich meist nur schwer kalkulieren, etwa bei schwieriger Witterung wie jetzt im Winter. »Im Durchschnitt bleiben fünf bis zehn Prozent der Ware liegen«, räumt der Radeberger Handwerksmeister ein. Kritiker der Überproduktion sprechen sogar von 15 bis 30 Prozent. Üblich sei, dass Bäcker nicht verkaufte Produkte an Futtermittelhersteller weitergeben und dafür eine Vergütung erhalten, sagt Eisold. Allerdings findet er, dass Lebensmittel - noch dazu aus handwerklicher Herstellung - dafür schlichtweg zu schade sind.

»Kein Bäcker wirft Brot weg«, versichert der Hauptgeschäftsführer des Zentralverbandes des Deutschen Bäckerhandwerks, Amin Werner. Manche Mitglieder der Zunft spenden es den regionalen »Tafeln«, die Lebensmittel für Bedürftige sammeln. Andere verkaufen noch »genussfähige« Ware am nächsten Tag im eigenen Geschäft billiger. Wiederverkäufer wie in Görlitz seien nicht als Konkurrenz zu betrachten, findet Werner. Dass immer mehr Tankstellen, Discountmärkte oder Backshops tiefgefroren angelieferte Teiglinge aufbacken, wirke sich dagegen schon aus. Bei Brot habe das Bäckerhandwerk bundesweit nur noch einen Anteil von etwa 50 Prozent, rechnet Werner vor. Das Konzept der Görlitzer Jungunternehmer nennt er innovativ, allerdings: »Ich höre zum ersten Mal davon.« Dabei gibt es ähnliche Modelle längst auch schon anderswo, etwa in Dresden.

Trotz der starken Konkurrenz von Bäckerfilialen in der Görlitzer Innenstadt hätte der Start nicht besser laufen können, schätzen Baron und Kiesewetter ein. »Frisches vom Vortag« gibt es bei ihnen »von 8 Uhr bis Ausverkauf«, wie auf dem Schild mit den Öffnungszeiten steht. Einmal war der Laden schon nach gut zwei Stunden leer. Manche Kunden hätten sich längst darauf eingestellt, dass nicht alles zu jeder Zeit zu haben sei. Sie kommen eher, um ihren Lieblingskuchen oder bevorzugtes Brot zu kaufen.

»Die Leute lassen sich umerziehen«, hat Viktoria Baron festgestellt. Sie hofft sogar, dass es nicht nur am Preis liegt, wenn ihre Kunden inzwischen sogar stärker über den Wert von Lebensmitteln nachdenken.

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