Vor oder hinter der Elbe

Vor 20 Jahren wechselte das Amt Neuhaus von Mecklenburg nach Niedersachsen - eine Bilanz

  • Iris Leithold, dpa
  • Lesedauer: 4 Min.
Sie gingen in den Westen, ohne ihre Dörfer zu verlassen: In diesem Jahr jährt sich der Wechsel des Amtes Neuhaus am östlichen Elbufer von Mecklenburg nach Niedersachsen zum 20. Mal. Was hat er gebracht? Bürgermeisterin Richter ist zufrieden - wenn es nur eine Brücke gäbe.

Im Amt Neuhaus an der Elbe hat ein Jubiläumsjahr begonnen: Vor 20 Jahren, am 30. Juni 1993, wechselten acht Gemeinden mit damals gut 6000 Einwohnern von Mecklenburg-Vorpommern nach Niedersachsen und wurden Teil des dortigen Landkreises Lüneburg. Es waren die einzigen Ostdeutschen, die sich in den Westen aufmachten, ohne ihre Dörfer zu verlassen.

Eigentlich handelte es sich um eine Heimkehr, denn die Ortschaften am östlichen Elbufer gehörten bereits von 1689 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zum niedersächsischen Landkreis Lüneburg. Nach einem Zusatzabkommen zum Londoner Protokoll hatten die Alliierten den sogenannten Neuhäuser Streifen jedoch der sowjetischen Besatzungszone zugeordnet.

Gleich nach der Wende 1989 machten sich Einwohner für den Wechsel nach Niedersachsen stark. Im März 1993 schließlich wurde ein Staatsvertrag zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen geschlossen. Am 29. Juni tauschten die beiden Ministerpräsidenten die Ratifizierungsurkunden aus und vom nächsten Tag an waren die Neuhäuser Niedersachsen.

Was hat es gebracht? Bürgermeisterin Grit Richter (parteilos) ist im Großen und Ganzen zufrieden mit der Integration in den Westen und der Entwicklung ihrer Gemeinde. »Wir haben viel Förderung bekommen, Straßen wurden gebaut«, sagt sie. Ob das alles so gekommen wäre, wenn man in Mecklenburg-Vorpommern geblieben wäre, könne sie nicht sagen. Im Alltag spielt das Mecklenburgische aber noch eine große Rolle: So lesen viele Einwohner nach wie vor die »Schweriner Volkszeitung« und nicht die »Landeszeitung« aus Lüneburg, erzählt Richter. Die »Landeszeitung« komme erst mittags mit der Fähre über die Elbe - eine Brücke werde schmerzlich vermisst. Die ganze Region würde profitieren, ist die Bürgermeisterin überzeugt. Bislang müssen die Menschen mit der Fähre über die Elbe setzen oder die entfernten Brücken in Lauenburg oder Dömitz nutzen. »Wir brauchen über eine Stunde bis in die Kreisstadt Lüneburg«, klagt sie. Mit Brücke, schätzt Richter, wären es nur noch 35 Minuten. Außerdem kostet die Fähre Geld: Auf der »Tanja« müssen für das Auto 3,50 Euro bezahlt werden, pro Person zudem ein Euro. Und bei Hoch- und Niedrigwasser sowie Eisgang stellen die beiden Fähren ihren Betrieb ein.

Die fehlende Brücke zwischen Darchau (Ostufer) und Neu Darchau (Westufer) ist seit Jahren ein wunder Punkt: Ihr Bau war im Überschwang der Wiedervereinigung versprochen worden. Heute verweisen Kritiker auf die geschätzten Kosten in Höhe von 45 Millionen Euro. Am 20. Januar, parallel zur Landtagswahl in Niedersachsen, findet im Landkreis Lüneburg eine Bürgerbefragung zum Thema Elbbrücke statt. Die Bürger können dann eine von drei Antworten ankreuzen auf die Frage, was sie vom Brückenbau halten: »Ja«, »Nein« oder »Nur wenn der Kostenanteil des Landkreises zehn Millionen Euro nicht übersteigt«.

Bürgermeisterin Richter findet die Befragung persönlich eine schlimme Sache. Sie befürchtet, dass weiter entfernt wohnenden Bürgern des Landkreises das Projekt egal ist. Am 12. Januar werde mit einer Menschenkette auf dem Darchauer Deich für den Bau demonstriert, kündigt sie an.

Der Lüneburger Landrat Manfred Nahrstedt (SPD) sieht die Integration der Neuhäuser seit 1993 positiv. »Entscheidend für die Integration ist der Kontakt der Menschen, und da sehe ich einen offenen Umgang miteinander«, sagt er. Das Amt Neuhaus verfüge mittlerweile über einige Vorzeigeprojekte. »Ich denke da zum Beispiel an den Elbe-Tourismus und die Archeregion mit dem Archezentrum Amt Neuhaus, das wir in diesem Jahr eröffnen werden.« Der zum Schutz der Bürger dringend notwendige Deichbau sei so gut wie abgeschlossen. Bei dem Archeprojekt geht es um den Erhalt vom Aussterben bedrohter Haustierrassen.

Wie andere Gemeinden im Ostteil des Landkreises Lüneburg habe sich das Amt allerdings nicht so positiv entwickelt, wie sich Nahrstedt das gewünscht hätte. »Der demografische Wandel zeigt hier seine Spuren, die auch mit einer Elbbrücke eingetreten wären.« Und: Durch den Solidarpakt für die ostdeutschen Bundesländer, von denen das Amt Neuhaus nicht profitiere, sei es gegenüber seinen östlichen Nachbarn benachteiligt. »Das ist eigentlich nicht länger vertretbar«, meint der Landrat. Heute hat das Amt Neuhaus noch 4800 Einwohner.

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