Improvisation als Lebensprinzip

Marseille ist Europäische Kulturhauptstadt 2013: Nicht alles ist fertig, die Bürger sind trotzdem stolz und frohgemut

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 5 Min.
Die südfranzösische Hafenstadt Marseille ist zusammen mit Aix-en-Provence und Arles sowie mehreren Dutzend umliegender Orte Europäische Kulturhauptstadt 2013. Dieser ehrenvolle Titel, den in diesem Jahr auch die slowakische Stadt Kosice trägt, war 1985 von der Europäische Union ins Leben gerufen worden.

Die Anregung hatte die seinerzeitige griechische Kulturministerin Melina Mercouri gegeben. Über Kunst und Kultur sollten sich die Völker des Kontinents einander besser kennenlernen. Frankreich war der Titel Europäische Kulturhauptstadt bereits einige Male zuteil geworden: 1989 fiel die Wahl auf Paris, im Jahr 2000 auf Avignon und 2004 auf die nordfranzösische Kapitale Lille zusammen mit einem halben Dutzend Städten im ehemaligen Textil- und Bergbaurevier.

Doch Lille und Marseille trennen nicht nur tausend Kilometer, sondern Welten. Während damals im französischen Norden alles zum Starttag fertig und vorzeigbar war, glich die Hafenstadt im Süden bis vor kurzem noch einer riesigen Baustelle. Und auch jetzt, wenige Tage vor der offiziellen Eröffnung in der kommenden Woche, wird vielerorts noch hektisch planiert, gehämmert und gestrichen. Klar ist, dass nicht alle Arbeiten rechtzeitig abgeschlossen werden. Damit haben sich die Organisatoren und Kommunalpolitiker längst abgefunden. Was andernorts als peinlich gedeutet werden würde, interpretiert man hier positiv um.

»Die Marseiller sind es gewohnt, unter Zeitdruck über sich hinauszuwachsen, und sie sind Meister im Improvisieren«, sagt Jacques Pfister, Präsident der Vereinigung »Marseille-Provence 2013«. Er fügt hinzu: »So ist nun mal das Leben hier am Ufer des Mittelmeers.« Auch der Kulturdirektor der Stadt, Sebastien Cavalier, wischt den Einwand, man sei etwas im Verzug, leger beiseite: »Wir hatten von Anfang an die Absicht, über das ganze Jahr hinweg immer wieder etwas Neues einweihen und eröffnen zu können. Das sorgt für immer neue Überraschungen und ist für die Besucher Anlass, öfter wiederzukommen.«

Vor allem das Paradeobjekt des Kulturhauptstadt-Jahres, das neue Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers wird weder - wie ursprünglich geplant - im Januar noch im März eröffnet, wie es noch bis vor kurzem hieß, sondern erst Mitte des Jahres. Der hochmoderne Bau neben dem Fort Saint-Jean und an der Einfahrt zum Alten Hafen soll mit ständigen Sammlungen und wechselnden Ausstellungen ein Tor zu den nordafrikanischen Mittelmeerländern öffnen. Zusammen mit dem daneben entstandenen - und ebenfalls noch nicht ganz fertigen - Regionalen Zentrum für das Mittelmeer ist es zu einer Begegnungsstätte erkoren.

An die eng mit dem Mittelmeer verbundene Geschichte der vor 2600 Jahren von den Griechen gegründeten Hafenstadt Messalia (Marseille) erinnert die Auftaktausstellung in der Alten Charité, einem ehemaligen Armenkrankenhaus. Hier werden die 29 Teile eines Frieses gezeigt, die man bei Grabungen im griechischen Delphi gefunden hat und die einst die dortige Niederlassung von Messalia geschmückt haben. Sie werden durch dreidimensionale Computersimulation komplettiert - ein Beispiel für die vielfältigen Verknüpfung von alter Kunst mit modernen Techniken. Zu den insgesamt fast 900 Veranstaltungen gehören klassische Konzerte und Opern im Rahmen des traditionellen Sommerfestivals von Aix-en-Provence sowie elektronische Musik und der HipHop aus den »Problemvierteln« von Marseille, aber auch durch Laien dargebotene Volksmusik. Oft werden Grenzen der Genres überschritten, etwa bei einer Rieseninsekten gleichen Installation von Baumaschinen am Strand, die mit Darbietungen des Ausdruckstanzes verbunden wird. Für die vielen geplanten Ausstellungen, die die vorhandenen musealen Räumlichkeiten sprengen würden, hat man stillgelegte Fabrikhallen, ungenutzte Werkstätten sowie leerstehende Häuser requiriert und renoviert. Sie sollen über 2013 hinaus als Kulturzentren, Kunstwerkstätten oder Atelierwohnungen weiterbestehen. Marseilles städtische Museen wurden saniert; in diesem Jahr werden zudem zwei neue für moderne und zeitgenössische Kunst eröffnet.

Aix bekommt einen Erweiterungsbau für das Musée Granet und ein neues Konzerthaus. In der nahen Hafenstadt La Ciotat wird nach kompletter Rekonstruktion das Eden-Theater wiedereröffnet, das älteste Kino der Welt, in dem die Brüder Lumière ihre ersten Filme gezeigt haben. Am Rande des Hafens von Marseille wird eine ehemalige Lagerhalle, die als »Docks des Suds« seit Jahren eine viel besuchte Diskothek beherbergt, über das ganze Jahr hinweg Reggae- und Jazz-Konzerte sowie Flamenco-Tänze bieten. Einen besonders breiten Publikumszuspruch verspricht man sich von der Straßenkunst und vom Wettbewerb von Zirkusleuten aus dem gesamten Mittelmeerraum.

Viele Künstler wollen auch gesellschaftliche oder politische Botschaften und Überzeugungen vermitteln, etwa zur Gleichbehandlung der Frauen, die in der oft noch von Machismus geprägten Mittelmeerkultur zu wünschen übrig lässt, zur Respektierung von Homosexualität, von fremden Religionen und Kulturen. Marseille als traditioneller »Schmelztiegel« von Einwanderern aus vielen Ländern ist dafür prädestiniert. In diesem Zusammenhang darf man gespannt sein auf die Beiträge aus den nordafrikanischen Staaten, wo es mit dem »Arabischen Frühling« große Umwälzungen gegeben hat.

Politische Polemik bleibt bei einem so großen Ereignis wie dem Kulturhauptstadt-Jahr freilich nicht aus. So sollte im Herbst in Aix-en-Provence eine große Ausstellung zum 100. Geburtstag des Schriftstellers Albert Camus stattfinden, der in Algerien geboren und aufgewachsen ist und die gemeinsame konfliktreiche Geschichte Frankreichs und seiner ehemaligen Kolonie repräsentiert. Gegen den zunächst als Kurator ausgewählten Historiker Benjamin Stora protestierten vehement »Pieds noirs«, ehemalige französische Siedler, und »Harkis«, algerische Veteranen der Kolonialarmee. Daraufhin ersetzte die rechte Bügermeisterin von Aix, Maryse Joissains-Masini, Stora kurzerhand durch den Philosophen Michel Onfray, der unlängst mit einer Camus-Biografie für Streit gesorgt hatte. Als Onfray begriff, dass er instrumentalisiert werden sollte, lehnte er dankend ab. So wird es leider keine Camus-Schau geben.

Nach anfänglicher Skepsis sind die meisten Einwohner von Marseille, Aix, Arles und den anderen Städten nun stolz darauf, für ein Jahr kulturelles Zentrum Europas zu sein. Viele beteiligen sich aktiv. Sie wollen gute Gastgeber sein für die mindestens zwei Millionen Besucher, die man nun zusätzlich aus In- und Ausland erwartet.

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