Freitod nach Hänselei

Cybermobbing wird von vielen Schulen als Gefahr noch unterschätzt

  • Dieter Hanisch
  • Lesedauer: 6 Min.
Ein unpässliches Foto auf Facebook, ein abwertender Kommentar über einen Mitschüler auf SchülerVZ - das Bloßstellen via sozialer Netzwerke im Internet ist kein Kavaliersdelikt, wie viele Jugendliche meinen. Das sogenannte Cybermobbing ist eine neue Form der Gewalt und beschäftigt immer öfter Polizei und Staatsanwaltschaft.

Der Fall einer 15-jährigen Kanadierin, die den Freitod suchte, weil sie die über sie einbrechenden und verbreiteten Hänseleien nicht mehr ertragen konnte, ging im Oktober letzten Jahres um die Welt. Vorläufiger Höhepunkt einer beängstigenden Entwicklung. Im Frühjahr 2011 wurde ein 17-Jähriger in Berlin bewusstlos geprügelt, weil er die Hetzjagd im Internet gegen seine Freundin beenden wollte.

Soziale Netzwerke, Foren, Chatrooms, Kommunikationsplattformen - die Tummelplätze im weltweiten Netz heißen Facebook, SchülerVZ oder YouTube, um nur einige der beliebten Portale zu nennen, auf denen sich die Jugendliche tagtäglich bewegen. Das unpässliche Foto des Mädchens mit der Zahnspange samt abwertendem Kommentar, der heimlich gemachte Schnappschuss des Jungen in Unterhose in der Umkleidekabine, das sind Beispiele für Cybermobbing, wenn die Bilder weiterverschickt oder ins Netz gestellt werden.

Christa Limmer von der Aktion Kinder- und Jugendschutz in Schleswig-Holstein (AKJS) beobachtet das mit zunehmender Sorge. »Ich kenne Fälle, in denen solche inkriminierenden Aufnahmen in der ersten Schulpause gemacht worden sind und am Ende der zweiten großen Pause hatten fast alle 650 Schüler der Schule diese auf ihrem Handy«, erzählt die Jugendschützerin. Und sie weiß, dass das Problem bei immer jüngeren Schülern um sich greift: »Wir bekommen jetzt schon Hinweise aus Grundschulen.«

Anne Keller, Landesbeauftragte für Gewaltprävention am Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen in Schleswig-Holstein, berichtet von einem Fall, wo in einer zweiten Klasse zwei Mädchen eine Mitschülerin überredeten, sich nackt auszuziehen, um sie per Handy abzufotografieren und ihr versprachen, sie mit Hilfe der Internetverbreitung zu einem »Superstar« zu machen. Das ist nur ein Fall unter vielen und die Dunkelziffer dürfte hoch sein, denn heute hat bereits in der Grundschule ein Großteil der Schüler ein Mobiltelefon. Keller appelliert daher an die Schulen, mit ihrer Cybermobbing-Präventionsarbeit spätestens so früh wie möglich zu beginnen, spätestens aber in der sechsten Klasse. Eine entsprechende Aufklärung beweg sich dann noch in einem Alter, in dem solche möglichen virtuellen Attacken des »Dissens« keine strafrechtlichen Folgen habe, da die Strafmündigkeit erst mit dem 14. Lebensjahr beginne, betont die Expertin.

Das AKJS hat dafür einen »Präventionskoffer« entwickelt, mit dessen Hilfe Schülern Medienkompetenz vermitteln werden kann. Anne Keller empfiehlt den Schulen, sich dringend eine »Interventions-Checkliste« zu erarbeiten, auf die dann im Falle des nötigen Eingreifens zurückgegriffen werden kann. Sobald eine Lehrkraft von Cybermobbing erfährt, ist aus ihrer Sicht schnelles und entschlossenes Handeln gefordert. »Transparenz ist wichtig«, mahnt sie, man dürfe das Thema nicht aus Scham oder Imagegründen versuchen totzuschweigen oder zu tabuisieren. Die Anzahl derartiger Vorkommnisse sei nämlich inzwischen so groß, dass man nicht mehr von Einzelfällen sprechen könne. Und für Keller ist wichtig: Bei der Bewältigung sind alle zu beteiligen - Eltern, Schüler, Lehrer, Schulsozialarbeiter und gegebenenfalls externe fachliche Hilfe. Dass das Thema in der Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung einen gebührenden Stellenwert erhalten muss, versteht sich für Keller von selbst.

Wie verbreitet das Phänomen mittlerweile ist, zeigt eine repräsentative Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2011. Für die Technikerkrankenkasse wurden damals in Nordrhein-Westfalen 1000 Schüler im Alter von 14 bis 20 Jahren befragt. 36 Prozent gaben an, , schon einmal Opfer von Cybermobbing geworden zu sein. 74 Prozent der Befragten sagten, ein Cyberopfer in ihrem Umfeld zu kennen. Diese Zahlen können in etwa auf ganz Deutschland übertragen werden, meint der Diplom-Psychologe Torsten Porsch von der Universität Münster, der sich als Medienkenner seit mehreren Jahren mit dem Phänomen beschäftigt. Trotz solch einer Dimension ist die wissenschaftliche Forschung dazu hierzulande allerdings erst am Anfang.

Laut Porsch zählen Verunglimpfung und Beleidigung zu den häufigsten Formen von Cybermobbing - etwa das peinliche Foto im Internet nach Verletzung der Intimsphäre oder das Streuen von nachweislich falschen Behauptungen. Üble Nachrede, Verleumdung, in eskalierender Art und Weise bis hin zu Nötigung, Erpressung oder Stalking - all diese Dinge sind juristisch betrachtet klar definierte Straftatbestände. Bei vielen Cybermobbingtätern gibt es Porsch zufolge diesbezüglich jedoch keinerlei Unrechtsbewusstsein und kein Gefühl für die Tragweite ihres Handelns. Als Ursache kommt oft - gedankenlos oder nicht - die eigene Selbsterhöhung durch Erniedrigung anderer zum Tragen. Neid, Missgunst oder Rache sind andere Antriebsfedern.

Zur Netzattacke kommt als Folge meist noch das Mobbing in der realen Welt, sprich auf dem Schulweg oder Schulhof, hinzu. Die Taten führen unter Umständen nicht nur zu einer seelischen Verletzung des Opfers, sondern es lassen sich auch körperliche Folgen beobachten. So sind Klagen über Kopf- und Bauchschmerzen bekannt. Weitere Reaktionen können Schlafstörungen, ein geändertes Ess- und Freizeitverhalten, eine soziale Isolierung, Konzentrationsschwächen und persönliche Gereiztheit sein. Nicht selten kommt es zu einem schulischen Leistungsabfall oder zu plötzlichen Fehlzeiten beim Schulbesuch. Aus Ärger kann aber auch Wut werden und daraus Aggressivität. Wird dann mit Gegenmobben reagiert, schaukelt sich ein entbrannter Konflikt erst recht hoch.

Handeln Eltern und Schule, kommt es oft zu einem Schulwechsel. Ist dieser vollzogen, ist die »Geschichte« von der oder dem »Neuen« an der neuen Schule aber dort meist schon bekannt, denn im Internetzeitalter bildet ein komplettes und erfolgreiches Löschen entsprechender Spuren die große Ausnahme. Christa Limmer stellt dabei aus »Opfersicht« die Frage, ob es nicht durchaus besser sein kann, wenn der Cybermobbing-Täter die Schule wechseln muss. Sie regt an, dass Schulen, die ja eine Schulordnung kennen, sich auch zu (Cyber-)Mobbing klare Regeln geben müssen, die auch Grenzen aufzeigen. Das mache allerdings nur Sinn, wenn Kontrollen das Einhalten der Regeln gewährleisten. Experten raten Cybermobbing-Opfern, sich jemanden anzuvertrauen. Erste wichtige und unkomplizierte Schritte können ein Wechsel der Nutzernamen in sozialen Netzforen sein, das Blockieren von Nachrichten, das Sichern von Beweisen per Screenshot, und wenn schulische Anstrengungen nicht helfen im äußersten Falle der Gang zum Anwalt und zur Polizei.


Infos und Hilfe

  • Jugendschutzbeauftragte bieten unter der kostenlosen Hotline 0800/1110333 Hilfe an.
  • Ebenfalls kostenlos ist das Beratungsangebot per E-Mail auf der Jugendplattform www.juuuport.de .
  • Von einem ehemaligen Opfer gegründet wurde die Seite www.schueler-gegen-mobbing.de. Betroffene und Experten geben Tipps.
  • Bei www.klicksafe.de geht es im Auftrag der Europäischen Kommission um sachgerechte Vermittlung von Medienkompetenz.
  • Auf Informationen, Diskussion, Austausch, Statistiken und Umfragen kann beim Mobbingportal www.schuelermobbing.de zurückgegriffen werden.
  • Basisinformation zum Thema Mobbing gibt es in Zusammenarbeit mit der 2001 gegründeten Stiftung Kidsmobbing auf den Kinderseiten des Südwestdeutschen Rundfunks (www.kindernetz.de)
  • Aufklärung und Prävention in Form von Theaterspielen bieten die Theaterproduktion Köln unter dem Titel Comic on! beziehungsweise die Bühne »Eukitea«. han
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