Wegschauen, Verschweigen, Angst, Gewalt

Nathan Englander: »Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Eine rot beleuchtete Hand auf einer amerikanischen Fußgänger-Ampel - das heißt Stopp. Vielleicht hat man das Zeichen auf dem Schutzumschlag zunächst nicht wichtig genommen. Doch wenn man die erste Geschichte zu lesen beginnt, flammt es auf. Soll unsereins überhaupt dabei sein, wenn sich in Florida zwei jüdische Paare treffen? Die beiden Frauen, Deb und Lauren, sind in New York zusammen in die Jeschiwa gegangen. Nun ist Lauren unter ihrer blonden Perücke kahlgeschoren, nennt sich Sho-shana. Sie und ihr Mann Mark sind in Jerusalem Chassidim geworden und haben zehn Kinder.

Wenn das schon für die Gastgeber befremdlich ist, was für eine seltsame Stimmung würde entstehen, käme da eine Deutsche durch die Tür. Aber das kann in diesem Fall wohl nicht geschehen, und also breitet sich kein eisiges Schweigen aus, sondern es wird geredet, geredet. Erst mit Vorsicht, Deb legt die Hand auf den Arm ihres Mannes Jeb, wenn er politisch Heikles anspricht. Shoshana erinnert sich, wie sie in der Schule Joints geraucht haben, und gesteht, dass sie das immer noch tut. Deb weiß, wo ihr Sohn das Zeug versteckt hat. Bald sind alle vier high. Die Anspannung ist weg, endlich. Sie gehen raus in den Regen. Dann inspizieren sie die Speisekammer. Shoshana staunt, was Deb da gehortet hat. »Sie plant ständig an unserem geheimen Versteck«, sagt ihr Mann. Und wie der Autor Nathan Englander das hinschrieb, ist plötzlich klar: Er hat diesen Satz nicht nur jüdischen Lesern zugedacht, sondern vor allem auch jenen, die endlich verstehen sollen, wie den Nachgeborenen des Völkermords insgeheim zumute ist.

Irgendwann fragte ich meine Mutter, ob sie Juden kennen würde. Das sind doch genau solche Leute wie du und ich, meinte sie, die kannst du nicht erkennen. Die richtige Antwort, dachte ich damals, weil Menschen Menschen sind. Dass dieser humane Vorsatz etwas Kaltes in sich birgt, habe ich erst später verstanden. Die Deutschen haben Furchtbares getan, sie tun es nie wieder, und nun ist es gut - nach diesem Motto hat man in der DDR zur Tagesordnung übergehen wollen. Antifaschisten waren darin reinen Gewissens, waren sie doch auch verfolgt, vom Tode bedroht. Aber das waren sie wegen ihrer politischen Entscheidung, nicht weil sie zu einer »Rasse« gerechnet wurden, die in Gänze vernichtet werden sollte. Wenn jüdisch oder arisch eine Frage von Leben und Tod gewesen ist, darf man nicht einfach sagen: Vorbei, wir sind alle Menschen. Jedenfalls nicht, wenn man zum, krass gesagt, Tätervolk gehört. Solch eine Aussage kann bestenfalls von jenen kommen, denen die Unterschiede in die Seele gebrannt wurden, und erst dann, wenn die Wunden heilen. Wird das je sein?

Nathan Englander hat ein großartiges Buch geschrieben, mit leichter Hand etwas Schweres vor uns hingestellt. Es sind spannende Geschichten, die überhaupt nicht moralisierend wirken. Er ist 1970 in New York geboren, in einer jüdischen Gemeinde aufgewachsen, fraglos wahrscheinlich zunächst. Immer wieder kommen in seinen Texten Jungen vor, denen schlimme Erfahrungen verschwiegen werden, Erwachsene, die viel in sich verbergen, mit dem Erlebten nicht klarkommen und diese Unsicherheit auf die Kinder übertragen - durch starre Ansichten, Strenge, taktisches Verhalten. Wem Gewalt angetan wurde, hat verschiedene Möglichkeiten, damit umzugehen. Hat er das Recht, mit eigener Gewalt zu reagieren?

Diese Frage zieht sich durchs ganze Buch. Was soll der kleine Zvi tun, wenn ihn ein größerer Junge verhöhnt, verprügelt und ihn dabei als Jude beschimpft. Da wäre es doch richtig, diesem »Antisemiten« gemeinsam eine Lektion zu verpassen. Kämpfen lernen. Was im Kleinen geschieht, hat sein Spiegelbild im Großen. Und kulminiert auf schrecklich absurde Weise, als zwei demente Alte im »Eldercamp« in einem alten Mann, der ebenfalls Jude ist, einen KZ-Aufseher zu erkennen glauben. Da ist Josh, der Direktor, vor eine furchtbare Wahl gestellt.

Wenn Menschen in einer rechtlosen Situation gewesen, zu Opfern gemacht worden sind, wie kann man von ihnen Achtung vor dem Gesetz verlangen? In einer anderen, geradezu gleichnishaften Geschichte, wird indes gerade das Gesetz beschworen, das sich aus jüdischer Geschichte herleitet - zum Zweck, ein unmenschliches Ansinnen zu rechtfertigen. Das ist ein Text, der aus des Autors Erfahrungen in Israel kommt, wo er studierte und einige Zeit lebte, wie er überhaupt schon in mehreren Ländern der Welt gewesen ist.

Die Idee zur eingangs erwähnten Titelgeschichte, »Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden«, soll ihm 2009 in Berlin gekommen sein, wo er in der »American Academy« ein Stipendium hatte. Während die zwei Paare noch in der Speisekammer sind, erinnert sich Shoshana an das »verrückte Spiel«, das »Anne Frank-Spiel«. Ihr Mann schaufelt geröstete Erdnüsse in sich hinein, und sie stellt die »Wer-wird-mich-verstecken«-Frage. Wer würde das von ihren Nachbarn in Jerusalem tun: zwei Erwachsene und zehn Kinder in einem »zweiten Holocaust« unter Einsatz seines Lebens retten? »Ich mach's«, sagt Jeb - und Deb sieht ihn prüfend an. Und du, Mark, fragt Shoshana ihren Mann, wenn du kein Jude wärst?

Nathan Englander wusste nicht, wie nah er in diesem Moment bei uns deutschen Kindern war. Uns saß die Angst nicht dermaßen in den Knochen, dass wir so ein »Spiel« uns hätten ausdenken können. Dafür fehlte die Gemeinsamkeit. Aber den Gedanken bekam man nicht los: Was hätte ich gemacht? Wäre ich mutig genug gewesen, den Nazis zu widerstehen? Wenn nebenan Menschen nachts aus der Wohnung geholt werden, gehst du raus und lässt dich auch mitnehmen oder stehst du furchtsam hinter der Gardine? - Und wenn niemand verhaftet wird, sondern, wie heute massenhaft, »nur« entlassen? Und die anderen sind nur erleichtert, dass es nicht sie selber trifft ...

Nathan Englander: Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden. Stories. Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence. Luchterhand. 234 S., geb., 18,99 €.

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