Zu Hause bei Erich Kästner
Wie ein Kinderdorf in Unterfranken mit dem Nachlass des Kinderbuchautors umgeht
Oberschwarzach. Es war wohl eines der letzten Telegramme, die der schwer kranke Erich Kästner verschickt hat. Der Text vom 1. Juli 1974 ist denkbar kurz: »Bin mit Kinderdorfbenennung einverstanden«, schreibt der bekannte Autor. Vier Wochen später - am 29. Juli - stirbt Kästner im Klinikum Neuperlach an Speiseröhrenkrebs. Seit fast vier Jahrzehnten heißen die inzwischen sechs Häuser in Unterfranken »Erich Kästner Kinderdorf«. Es ist jedoch mehr als der Name, der die Einrichtung mit dem Schriftsteller verbindet. Im Oberschwarzacher Haus lagert ein Großteil seines Nachlasses.
Nach der Namensverleihung habe niemand daran gedacht, dass es außer dem Namen noch einen Berührungspunkt zum berühmten Autor geben würde, sagt Daniela Huhn, Mitglied der Kinderdorf-Gesamtleitung. Bis dann 1991 die langjährige Lebensgefährtin Kästners, Luiselotte Enderle, starb und Kinderdorf-Vertreter zur Testamentseröffnung eingeladen wurden: Das Kinderdorf bekam das komplette Inventar aus Kästners Reihenhaus im Münchner Stadtteil Bogenhausen vermacht. »Wir wissen nicht, wieso wir als Erben ausgesucht wurden - es gab keine Begründung«, berichtet Huhn. Enderle verfügte nur, dass der Nachlass »zur Pflege des Namens Erich Kästners« sowie »der geistigen und körperlichen Pflege der Kinder« dienen soll. Die Vereinsmitglieder waren überwältigt.
Die Sache wurde zur logistischen Herausforderung, denn zum Inventar des Hauses gehörten neben den vielen Möbel auch über 8200 Bücher. Um das Erbe Erich Kästners zusammenhalten zu können, musste Platz geschaffen werden. In der Steinmühle Oberschwarzach wurde die alte Tenne in Eigenleistung bis 1994 zu einer Bibliothek umgebaut.
In dem Gebäude am Rand der kleinen Marktgemeinde im Schweinfurter Land stehen nun nicht einfach Regalmeter an Regalmeter - dort leben Erich Kästner und Luiselotte Enderle ein Stück weit weiter. Hier eine venezianische Eckbank mit Tisch, dort Kästners Schreibtisch mit Lesebrille und Schreibmaschine. Daneben ein Stuhl mit Kästners Koffer und Hut. Alles echt und original, nichts hinter dicken Absperrungen oder in Vitrinen. »Man darf hier alles anfassen, man darf sich hinsetzen, die ganze Atmosphäre soll auf die Besucher wirken«, sagt Daniela Huhn.
Herzstück ist natürlich die Privatbibliothek Kästners. Neben den Erstausgaben seiner eigenen Werke gehören dazu vor allem Geschenke anderer Schriftsteller wie Carl Zuckmayer oder Wolfgang Borchert und die jährlichen Buchgeschenke von Kästners Vater an seinen Sohn. »Wir haben den Bestand damals zwar erfasst«, sagt Huhn. Wissenschaftlich aufgearbeitet wurde er bislang allerdings nicht. »In vielen Bücher haben Erich Kästner oder Luiselotte Enderle handschriftliche Notizen gemacht, das wäre für Bibliothekswissenschaftler sicher spannend bei uns.«
Spannend ist die Bibliothek selbstverständlich auch für die Kinder und Jugendlichen, die im Kinderheim leben. »Ihnen ist sehr bewusst, was für ein Schatz hier in ihrer Mitte bewahrt wird«, sagt Daniela Huhn. Weil sie den Wert kennen und schätzen, dürfen sie auch immer unbeaufsichtigt in die Bibliothek, wenn ihnen danach ist. Das sei auch im Sinne Kästners.
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