»Bedrückender Sachverhalt«

Ex-Innenminister Otto Schily vor dem Untersuchungsausschuss über Verbrechen des NSU

  • René Heilig
  • Lesedauer: 3 Min.
Der frühere Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hat am Freitag vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages ausgesagt. Er nannte die fatalen Fehlermittlungen zum »Nationalsozialistischen Untergrund« einen »höchst schockierenden und äußerst bedrückenden Sachverhalt«. Als damals zuständiger Minister übernahm er politische Verantwortung.

Otto Schily war von 1998 bis 2005 Bundesinnenminister. In diesem Zeitraum haben die NSU-Mörder sieben ihrer zehn Opfer umgebracht. Doch das Medieninteresse am Auftritt des Ex-Ministers vor dem NSU-Untersuchungsausschuss stand in keinem Verhältnis zum Wert von Schilys Zeugenaussage. Immerhin, der inzwischen 80-Jährige ließ jede früher bei ihm obligatorische Schroffheit vermissen. Nachdenklich, selbstkritisch, betroffen wirkte er nicht nur. Er war es. Gerade weil Rot-Grün in seiner Regierungszeit so engagiert für ein breites Bündnis für Demokratie, gegen Gewalt und Extremismus geworben habe. Schily sagt, durch die Unfähigkeit, die NSU-Mörder rechtzeitig zu stoppen, sei »das Vertrauen in die Zuverlässigkeit und Effizienz der Sicherheitsstrukturen insbesondere bei den migrantischen Bürgerinnen und Bürger erheblich beeinträchtigt worden«.

Im Detail jedoch war der Ex-Minister kaum hilfreich. Er konnte sich nicht daran erinnern, ob die damals als »Dönermorde« bezeichneten Verbrechen jemals Thema auf der Ministerebene waren. Nur zu einem, dem NSU seit 2011 in Rechnung gestellten Verbrechen hat der Minister sich damals geäußert. Dabei ging es um den Bombenanschlag vom 9. April 2004 in der Kölner Keupstraße. Über 20 Menschen waren zum Teil schwer verletzt worden.

Vor der Presse hatte Schily am Folgetag erklärt: »Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden gewonnen haben, deuten nicht auf einen rechtsterroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu.« Hinzugefügt hatte Schily allerdings, dass eine abschließende Bewertung noch nicht möglich sei. Er vermutete, dass er die Einschätzungen von seinem Lagezentrum übernommen hat. Vorwürfe, er habe durch persönliche Fehleinschätzung Ermittlungen zu rechtsextremem Terror in eine falsche Richtung gelenkt, wies Schily zurück.

Der »Fall Keupstraße« trägt eine Reihe Widersprüche in sich. In einer ersten E-Mail hatte das zuständige Landeskriminalamt von Nordrhein-Westfalen noch von »terroristischer Gewaltkriminalität« gesprochen, wurde aber bereits eine Stunde darauf vom Düsseldorfer Innenministerium zurückgepfiffen. Fortan sah man den Bombenanschlag in einer vor allem von türkischen und kurdischen Mitbürgern bevölkerten Straße als Fall der allgemeinen und organisierten Kriminalität. Wegen dieser frühen Orientierung wurde so gut wie nicht mehr im rechtsextremistischen Milieu ermittelt.

Stutzig machen muss unter anderem, dass ein für Rechtsextremismus zuständiger Referatsleiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz noch am Abend des Anschlages dringend Kontakt zu seinem NRW-Partner gesucht hat. Worum es bei dem Telefonat ging, ließ sich bislang noch nicht ermitteln. Schily war damit nicht befasst und wusste auch nicht, dass man im Bundeskriminalamt sehr wohl an eine rechtsextremistische Tat gedacht hatte.

Zu viele im Ausschuss gestellte Fragen sind unbeantwortet. Bisweilen kann man aber selbst aus Aussagen von offenkundig nicht sehr fähigen Beamten »Perlen« herausfiltern. So geschehen am Donnerstag. Aus Sachsen waren drei Polizisten geladen, die es erstaunlicherweise bis zum Rang von Ersten Kriminalhauptkommissaren gebracht haben. Sie und der Freistaat insgesamt waren nur als Dienstleister in die Fahndung nach den untergetauchten Rechtsterroristen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt eingebunden. Das muss erstaunen, immerhin haben die drei mutmaßlichen Terroristen elf Jahre in den sächsischen Städten Chemnitz und Zwickau gelebt.

Für die Thüringer Kollegen sollten Sachsens Staatsschützer den Blood&Honour-Führer Thomas Starke vernehmen. Der Tipp war goldrichtig, denn Starke hatte - wie man heute weiß - dem Trio Sprengstoff und die erste Wohnung in Chemnitz verschafft.

Zur Befragung in Dresden erschienen urplötzlich Beamte des Berliner Landeskriminalamtes. Das war, so sagte ein sächsischer Kripo-Mann am Donnerstag, eine »atypische Einsatzbegleitung«. Ein Vernehmungsprotokoll sucht man vergebens, doch zeugenschaftlich ist nun zumindest der folgende Skandal belegt: Die sächsischen Vernehmer ließen die Berliner Kollegen auf deren Wunsch mit Starke alleine. Zugetragen hat sich das am 14. November 2000. Ab 16. November wird Starke als Vertrauensperson 562 des Berliner LKA geführt.

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