Ausnahmezustand in London

Ostersonntag findet auf der Themse das 159. Duell Oxford - Cambridge statt

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Am Sonntag kämpfen zum 159. Mal die Ruder-Achter der Universitäten von Oxford und Cambridge um den Sieg in dem legendären Rennen.

Die Themse prägt London so stark, wie es von einem Fluss mit der bescheidenen Länge von 346 Kilometer nicht automatisch zu erwarten ist. Dass sie in der Metropole nicht bloß als Fluss, sondern Strom wahrgenommen wird, liegt auch daran, dass sie bis 90 km oberhalb der Mündung dem Spiel der Gezeiten ausgesetzt ist und ihr Wasserstand bis zur Höhe eines Einfamilienhauses schwankt.

Am morgigen Sonntag, nachmittags halb fünf, wenn die Flut ihr Hoch erreicht, erfolgt im Südwesten Londons der Start zu einem englischen Ritual mit Weltausstrahlung: dem Ruderduell der Achter-Boote der Männer der Universitäten von Oxford und Cambridge. Das Boat Race 2013 ist die 159. Auflage. Die öffentliche Aufmerksamkeit wird enorm sein. Eine Viertelmillion Zuschauer an beiden Ufern zwischen Putney und dem Ziel flussaufwärts in Mortlake; bis zu zehn Millionen Fernsehzuschauer daheim und 400 Millionen weltweit.

Für die knapp 7000 Meter lange Strecke - gut dreimal so viel wie die Distanz bei WM oder Olympia! - benötigen die Crews zwischen 17 und 20 Minuten. Der Streckenrekord von 16:19 min besteht seit 15 Jahren und wurde von Cambridge markiert. Cambridge führt mit 81 zu 76 auch in der Gesamtwertung, obwohl die Rivalen von Britanniens ältester Uni Oxford 8 der 13 Rennen seit 2000 gewannen.

Egal, wie die Zweikämpfe ausgehen - das Boat Race garantiert 17 Minuten Ausnahmezustand in den Booten. Und etwas länger in den ufernahen Pubs. Das Race ist als älteste Amateurveranstaltung von nationaler Größe und als berühmtester Studentenwettstreit der Welt ein Sportkampf erster Güte und zugleich Auftakt der Gesellschaftssaison auf der Insel.

Das erste Rennen fand 1829 auch auf der Themse, aber nicht in London, sondern im bukolischen Henley statt. Die Idee hatten die Freunde Charles Merivale (Cambridge) und Charles Wordsworth für Oxford, das die Premiere gewann. 1845 dann der Umzug nach London auf den heutigen Kurs. Das Duell entwickelte stabile Attraktivität für Schaulustige, Zusatzrenommee für die weltbekannten Unis und Aussichten auf Prestige und beruflichen Anschlussprofit für die Männer, die es in der harten Qualifikation in die Teams der Hellblauen (Cambridge) und Dunkelblauen (Oxford) schaffen. Entsprechend dem globalen Zulauf beider Unis sind die Besatzungen immer internationaler geworden. Das aktuelle Oxford-Boot einschließlich Steuermann weist fünf Briten, zwei US-Boys sowie je einen Kanadier und Neuseeländer auf, während für Cambridge nur zwei Briten, aber vier US-Athleten, zwei Australier und - erstmals - ein Tscheche gemeldet sind.

Im Vorjahr gewann Cambridge unter bizarren Umständen: Die Boote hatten die Hälfte geschafft, Oxford einen Vorsprung, als Sir Matthew Pinsent, früher Olympia-Ruderer und heute Offizieller, einen Schwimmer sichtete. Der lief Gefahr, vom Oxford-Boot erwischt zu werden. Der Schiedsrichter musste im Interesse von Leib und Leben handeln. Er stoppte das Rennen, »Flitzer« Trenton Oldfield, ein Australier, der mit seinem lebensmüden Auftritt einen »anti-elitären« Protest loswerden wollte, wurde gerettet und den Buhs der Zuschauer übereignet. Nachdem der Kampf neu gestartet worden war, brach bei Oxford ein Blatt, Cambridge hatte den Sieg sicher.

Unterbrechungen hatte es auch früher gegeben. 2001 musste das Duell gestoppt werden, nachdem sich mehrfach eine Kollision der Boote abgezeichnet hatte. 1912 gingen beide unter und erforderten eine Neuauflage tags darauf. 1877 steht das einzige tote Rennen zu Buche. Die Ursache lag nicht an den Hünen im Boot - die Durchschnittsgröße des heutigen Oxford-Achters (ohne Steuermann) beträgt 1,93 m -, sondern am Zielrichter: Wie so mancher Pub-Besucher lag der unsterbliche »Honest John« Phelps vom Bierrausch benebelt unter einem Busch. Er verkündete Unentschieden, obwohl Oxford fast fünf Meter vorn lag …

Auf der Geschlechterebene hält 2013 eine Neuerung bereit. Nein, nicht die erste Frau im Männer-Achter. Die gab es 1981, als Sue Brown Oxford zum Sieg steuerte. Die Neuheit des Frühlings besteht darin, dass erstmals in der Geschichte des Boat Race die Crews der Damen und Herren diesmal bei einem Termin gewogen und die Maße publik gemacht wurden. Helena Morissey, die Sponsoren des Frauenrennens vertritt, sagte: »Ich bin nicht sicher, dass Frauen bei Gleichberechtigung ausgerechnet ans öffentliche Wiegen dachten. Doch es sind eh alles Muskeln, und ich bin froh über diesen Schritt zur Gleichstellung.«

Dieses und nächstes Jahr rudern die Frauen letztmals getrennt vom London-Kurs der Männer auf dem 2012er Olympiasee Dorney Lake bei Eton. Vorigen Sonntag gewannen dabei die Frauen Oxfords. Ostern 2015 steigt das erste Doppel-Duell Oxford - Cambridge. Dann rudern beide, die Achter der Frauen und Männer, auf dem Gezeitenwasser der Themse. Änderungen auf der Insel erfolgen langsam, aber das ist ein Grund, weshalb aus Ritualen Kult wird.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal