Gesichter der Kindheit

Wilhelm Bartsch führt in die sechziger Jahre nach Eberswalde, und ein Mörder ist auch dabei

  • Werner Liersch
  • Lesedauer: 3 Min.

Dieser Roman von Wilhelm Bartsch ist in seinen Orts- und Zeitangaben so hartnäckig wirklichkeitsbesessen wie unerschrocken anschaulich bei den Liebesspielen seines Personals, dass man genau zu wissen meint, womit man es zu tun hat.

Dies ist die DDR am Ende der sechziger Jahre, der Ort das brandenburgische Provinzstädtchen Eberswalde mit seinem überdimensionalen Kranbaubetrieb und der spektakuläre Kriminalfall, der die Handlung begleitet, der Fall des jugendlichen Sexualstraftäters Erwin Hagedorn. Der schnitt im Mai 1965 bei Eberswalde zwei neunjährigen Jungen die Kehle durch und wurde im September 1972 in Leipzig hingerichtet. Alles zutreffend und doch noch anders. »Alle hier handelnden Figuren sind Kunst«, sagt Bartsch. So ist es auch mit der Landschaft des Romans.

Ja, sein pubertärer Held Franz Flurschütz ist Kumpel und Spielkamerad des Erwin Hagedorn, wie es der in Eberswalde geborene Wilhelm Bartsch selber war. Aber das ist noch nicht der Roman und Bartsch kein Autor, bei dem es gerade dazu reicht, eine fiktive Rahmenhandlung um einen alten Fall marktkonform zu bauen. Der Kindermörder Hagedorn gehört einfach zum Milieu der Geschichte und die handelt davon, wie ein Heranwachsender seine provinzielle Umwelt in der DDR als eng und bedrückend erlebt. Wie er mit seinen Frustrationen allein bleibt und sich herauszukatapultieren sucht. Wie trostlos »Provinz« sein kann.

Flurschütz ist Oberschüler und Auszubildender in der Landwirtschaft, er stromert herum, rebelliert gegen Schule und Familie, baut sich eine Gegenwelt aus einer Sammlung bunter Groschenheftchen aus dem »Westen« auf, für die er bald zu einer Adresse in Eberswalde wird. Unbeschadet dessen macht er Gedichte, schwärmt für die Beatles und jagt wild dem Unbekannten hinterher. Es hat die Gestalt der Frauen, die hier Mädchen sind. Karin ist Schaffnerin und außer in Sex auch noch in Bücher verliebt. Moni vierzehn und in ihrer Unerreichbarkeit die eigentliche weibliche Herausforderung von Flurschütz.

Der lebt seine erotischen Fantasien auch in der Sprache des Romans reichlich aus, allerdings scheint er mehr noch zu suchen: »Liebe«. Beinahe überall aber erlebt er Beziehungslosigkeit, eine Mutter ohne Empathie, einen groben Liebhaber der Frau, die Trostlosigkeit des Städtchens, den Fremdkörper der sowjetischen Truppen, die gerade benutzt wurden, einen letzten Funken sozialistischer Hoffnung im Prag 1968 auszutreten.

Nur der Großvater gibt Flurschütz ein wenig Halt. Man versteht, das kann zu einer mörderischen Kindheit werden. Jahrzehnte später besichtigt der Erzähler die Szene. Keiner der Erinnerungsorte ist unbeschädigt oder nicht gar verschwunden. »So sieht das bischen Zeug zur Ewigkeit aus«, heißt das melancholische Fazit. Es ist ein großer Roman über die vielen Gesichter der Kindheit.

Wilhelm Bartsch: Das bisschen Zeug zur Ewigkeit. Osburg Verlag. 327 S., geb., 19,95 €.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.