Am Ende nur Schweigen

»Oslo, 31. August« von Joachim Trier

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 4 Min.

Den Willen zum Entzug hat Anders aufgebracht, nur hat der Entzug ihm den Willen zum Leben nicht wiederbringen können. So beginnt und endet »Oslo, 31. August« mit einem Selbstmordversuch: eher halbherzig ausgeführt und absehbar zum Scheitern verurteilt der eine - ein allseits akzeptierter täglicher Ritus der Wiedergeburt eher als ein Lebensendversuch -, geplantermaßen erfolgreich der andere. Die Geschichte, die der norwegische Regisseur Joachim Trier in den perfekten Kreis zwischen diese beiden Fluchtversuche spannt, ist die Geschichte einer permanenten Lebenskrise und ihrer Überwindung. Und die wird anderthalb Stunden lang konsequent aus dem Blickwinkel des im wörtlichen wie übertragenen Sinne nun ziemlich nüchternen Protagonisten erzählt, auch wenn die Kamera stets die Außenperspektive behält - und das ausdrucksstarke Gesicht von Anders (Anders Danielsen Lie) immer fest im Blick.

Der hat nach einer jahrelangen Suchtgeschichte mit harten Drogen und Alkohol lange Monate in einer Entziehungsklinik auf dem Land verbracht, steht kurz vor der Entlassung und darf an diesem spätsommerlichen Tag erstmals allein zu einem Vorstellungsgespräch zurück in die Stadt, in der er 33 seiner 34 Lebensjahre verbrachte. Ein Freigang, den Anders mit Begegnungen ausfüllen wird. Begegnungen mit Freunden und Familie, aber auch mit Fremden, die eine Brücke bilden könnten in die unbekannte Zukunft. Denn dass die Freunde, die ihn mit sichtlichem Zögern nach langer, suchtbedingter Trennung wieder in die Arme schließen und mit höflich unterdrückter Bestürzung nochmals in ihrem Leben willkommen heißen, in dieser noch nicht ganz begonnenen Zukunft wohl eher keine Rolle spielen werden, ist relativ schnell offensichtlich.

Dass außerdem die Stadt in diesem Film die Titelheldin ist und nicht etwa der Held selbst, hat seinen guten Grund. Tausend Erinnerungen verknüpfen Anders mit Orten und Menschen in Oslo, von der heimischen Villa (die seine ortsabwesenden Eltern gerade räumen, um Anders‘ aufgehäufte Schulden abzudecken) bis zur Wohnung der Freunde und - natürlich - der Adresse seines einstigen Dealers. Entnervt stellt Anders ziemlich bald fest, dass er Oslo wohl hinter sich lassen sollte, wenn es eine Chance auf einen echten Neubeginn geben soll. Der einzige Bezugspunkt außerhalb des Landes aber ist die Ex-Freundin im fernen - und unglücklicherweise auch ziemlich zeitversetzten - New York. Mit ihr wird der herbeigesehnte Kontakt nicht mehr herzustellen sein, vielleicht schon deshalb nicht, weil die negativen Erinnerungen an Anders‘ Drogentrips und unerklärten Abwesenheiten schwerer wiegen als jede mögliche Gegenwart.

Anders ist wach und gebildet, er würde gerne irgendwo andocken, gern wieder Interesse entwickeln für das, was ihm an Menschen, Gesprächen und Ideen begegnet auf seinem mal zielgerichteten, mal eher zufallsgesteuert mäandernden Weg durch Oslo an diesem 30. und 31. August. Nur in ihm drin ist noch immer wenig mehr als Leere. Die sechs Jahre, die er mit seiner Sucht verbrachte, hängen an Anders wie Blei. Nichts vorzuweisen zu haben für einen großen Teil seines Erwachsenenlebens, das wiegt ihm schwerer als das Potenzial einer Zukunft, die er sich nicht ausmalen kann. So kommen zwei fatale Komponenten zusammen, die jedes Vorankommen extrem erschweren: Die verlorenen Jahre lassen sich nie wieder aufholen, und zugleich erscheint Anders die harmlose, von nichts als den üblichen Banalitäten des Alltags und individuellen Unzufriedenheiten beschwerte Gegenwart der Anderen trivial und nicht der Mühe wert.

»Oslo, 31. August« basiert auf derselben französischen Romanvorlage wie Louis Malles Alkoholikerdrama »Das Irrlicht« von 1963. Auch Joachim Triers ästhetische Vorbilder sind durchweg im französischen Kino zu finden, Robert Bresson vor allem, aber auch Alain Resnais. Trotzdem ist die Atmosphäre seines Films unverkennbar skandinavisch, stellenweise beinahe dokumentarisch, jedenfalls sehr fest in der nordeuropäischen Geografie verankert. Am Ende rekapituliert der Film noch einmal die Stationen dieses einen Tages. Nur sind die Orte diesmal leer von Menschen. Und wo zu Beginn noch vielstimmig eingesprochene biografische Reminiszenzen an die Stadt, ihre Plätze und Ecken, ihre Stimmung und Aura die frühmorgendliche Leere belebten, ist am Ende nur noch Schweigen.

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