Zugedröhnt im Klassenzimmer

Manche von ADHS betroffene Kinder lernen mit Medikamenten besser, andere jedoch nicht

  • Guido Sprügel
  • Lesedauer: 4 Min.
Laut aktuellen Studien gibt es immer mehr Kinder mit einer »Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung« (ADHS). Die Verschreibungszahlen von Medikamenten wie Ritalin sind ebenfalls extrem angestiegen. Bekämpft Ritalin eine Krankheit oder hindert es gar am Lernen?

Kevin Böckmann kann sich noch genau erinnern, als der Arzt seiner Mutter geraten hat, es doch einmal mit Ritalin zu versuchen. Es war in der vierten Klasse der Grundschule, Kevin träumte laut seiner Klassenlehrerin zu viel und erledigte seine Aufgaben so gut wie nie in der vorgegebenen Zeit. Gestört hat er nicht, die Klassenlehrerin war mit seinem Sozialverhalten immer zufrieden. Genau am Übergang zur weiterführenden Schule stieg dann der Druck. Seine Mutter wollte das Beste für ihren Sohn, zumal sie finanziell nicht sonderlich gut gestellt war.

»Meiner Mutter kann ich keinen Vorwurf machen. Sie wollte, dass ich es einmal besser habe als sie. Und dazu ist ein guter Schulabschluss nun einmal wichtig«, so Böckmann rückblickend. Also wandten sie sich an einen Arzt, an dessen genaue Fachbezeichnung Kevin sich heute nicht mehr erinnert. Er erinnert sich jedoch, dass die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) schnell fest stand. Trotz Ritalin gelang der Wechsel auf eine weiterführende Schule jedoch nicht und Kevin kam auf eine Förderschule. In der sechsten Klasse vergaß er die Einnahme des Medikaments immer mal wieder. Seinem Lehrer ist damals aufgefallen, dass er mit und ohne Medikament eigentlich gleich gut lernt. »In Absprache mit einem Arzt habe ich das Medikament dann probeweise abgesetzt. Und siehe da, mein Lernverhalten hat sich nicht verändert. Also habe ich es nie wieder genommen und nach der Förderschule meinen Hauptschulabschluss gemacht.«

Kevins Biografie entspricht wie ein Abziehbild dem »Arztreport 2013« der Krankenkasse Barmer GEK. Diese hat in diesem Jahr ADHS als Schwerpunktthema und die Autoren der Studie kommen zu dramatischen Zuwachsraten. Seit 2006 stiegen demnach die ADHS-Diagnosen um 42 Prozent. Besonders betroffen sind Jungen im Alter zwischen 10 und 11 Jahren, also genau zum Zeitpunkt des Schulwechsels auf weiterführende Schulen. Bei genauerer Betrachtung der im Jahr 2000 Geborenen stellten die Forscher fest, dass 19 Prozent der Jungen und 8 Prozent der Mädchen eine ADHS-Diagnose erhielten. Insgesamt sollen derzeit rund 620 000 Kinder und Jugendliche die Aufmerksamkeitsstörung aufweisen.

»Die Diagnose-Häufung zwischen im Alter von 10 und 11 Jahren lässt vermuten, dass dabei auch der gesteigerte Leistungsdruck eine Rolle spielt«, sagt Thomas Grobe, Hauptautor der Studie, die das Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung (ISEG) aus Hannover im Auftrag der Barmer GEK erstellte. Und er konnte mit seinen Kollegen noch eine weitere extreme Steigerungsrate nachweisen. »Die Verschreibungszahlen von Medikamenten mit dem Wirkstoff Methylphenidat (z.B. Ritalin) stiegen in der Gruppe der unter 19-Jährigen von 2006 bis 2011 um 35 Prozent. Und es handelt sich dabei nicht um bunte Pillen, sondern um Psychopharmaka!«, warnt Grobe. Und noch eine weitere Parallele gibt es zu der Geschichte von Kevin Böckmann - besonders häufig wird ADHS in sozial benachteiligten Schichten diagnostiziert. »ADHS ist keine Modediagnose der Besserverdienenden«, so Grobe.

Gepfefferte Zahlen - und dennoch muss man genau hinschauen und darf weder Eltern, noch Ärzte pauschal verurteilen, wenn sie die Diagnose ADHS stellen oder Medikamente wie Ritalin verordnen. »Ohne Ritalin wäre unsere Familie auseinandergebrochen«, erzählt Beatrice M., eine 38-jährige Lehrerin, die im Hamburger Westen an einer Stadtteilschule arbeitet. Beatrice M. entsprecht dem Bild der Studie so gar nicht. Weder gehört sie zur unterprivilegierten Schicht noch hat sie ihren Sohn extremem Leistungsdruck ausgesetzt. Und sie hat mit ihrem Mann zusammen jahrelang gerungen, ob sie ihrem Sohn Ritalin geben oder nicht. Wenn man sie mit den Zahlen der Studie konfrontiert, wird sie schnell aufbrausend. »Natürlich gibt es viele Fehldiagnosen. Ich kenne viele dieser Kinder ja auch aus meiner Tätigkeit und stand Medikamenten immer kritisch gegenüber. Dennoch stehe ich zu unserer Entscheidung heute noch zu 100 Prozent«, erzählt die zweifache Mutter.

Schon als ihr Sohn 4 Jahre alt war, fiel ihr auf, dass er über die Maße hibbelig war, sich schwer konzentrieren und an Regeln halten konnte. In der Grundschulzeit wurden die Probleme dann zunehmend manifest. »Die Telefonate häuften sich und es fiel Maximilian vom ersten Tag an schwer, den Schulalltag störungsfrei zu absolvieren«, fasst Beatrice M. zusammen. Der Leidensweg für ihren Sohn und die Familie begann. Freunde hatte er wenige, da er den Kindern viel zu hampelig und impulsiv war. In der Familie forderte er seine Eltern und Schwester immer wieder heraus und ärgerte sie mitunter bis zur Weißglut. Zum Glück hatte er eine sehr verständnisvolle Grundschullehrerin. »Sie hat immer zu ihm gehalten und seine Probleme ernst genommen«, erzählt M. weiter. Doch trotz aller Verstärkersysteme und Absprachen besserte sich Maximilians Schulbesuch bis zur dritten Klasse nicht.

Seine Eltern wandten sich schließlich hilfesuchend an eine Psychologin, die bei Maximilian ADHS diagnostizierte und das Medikament Ritalin empfahl. Anfänglich wehrten sich Beatrice M. noch gegen die Diagnose und die Medikamentierung. Nach weiteren Gesprächen mit Kinderpsychologen entschieden sie sich jedoch um. »Seit der 4. Klasse nimmt Maximilian Ritalin. Und seitdem klappt es in der Schule super und auch das Familienleben ist ausgeglichen und harmonisch! Jetzt ist er in der 6. Klasse und Beatrice M. hofft, , dass ihr Sohn eines Tages ohne Medikamente auskommen wird.«

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