Mit einer Schlafmütze ins Glück

  • Lesedauer: 3 Min.

Das Auftaktbild zu diesem Lesergeschichtenwettbewerb ist so voller romantischer Poesie, dass sie mich beflügelt hat, meine Geschichte zu erzählen.

Es war der 1. Mai vor 60 Jahren. Ich fühlte mich wie das Mädchen mit dem Schirm, der ihr eine Chance gab, in die Höhe des Glücks zu fliegen. Der 1. Mai war für uns Schülerinnen und Schüler des Internats in Werneuchen immer ein besonderer Feiertag, der mit einem öffentlichen Tanzvergnügen am Abend für uns endete.

In wenigen Wochen würde ich nach dem Abitur mein Studium beginnen können. So freuten sich alle Abiturienten auf diesen letzten gemeinsamen Feiertag. In diesem Jahr hatte ich aber eine Einladung von einem Freund zum Tanz im Dorf meiner Eltern, wo auch mein Festkleid auf mich wartete. Dorftanz war immer ein großes Vergnügen nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für betagte Einwohner die vor allem Plätze rund um die Tanzfläche bevorzugten. So sangen und klatschten sie oft zu den fröhlichen Weisen und passten genau auf, wer sich mit wem dem Rhythmus der Musik hingab. Vielleicht hätten der Freund und ich an diesem Tag ebenfalls ihr Interesse gefunden - vielleicht eine Chance fürs Leben?

Unsere Internatsleiterin riss mich aus den Vorbereitungen für meine Fahrradtour ins Dorf meiner Eltern. Sie übergab mir die Schlüssel fürs Internat mit der Bitte, dafür Sorge zu tragen, dass alle Schülerinnen und Schüler abends um 22 Uhr laut Internatsordnung im Haus seien und das Internat abzuschließen ist. Sie selbst hatte einer dringenden Verpflichtung nachzukommen. Äußerlich ruhig kämpfte ich gegen mein inneres Unbehagen, diese Verantwortung nicht übernehmen zu wollen. Vor mir stand eine kluge, sich für uns viele Jahre aufopfernde Frau, die auch unsere Klassenlehrerin war. Ich konnte diese mir übertragene Pflicht nicht verweigern. Meine Enttäuschung war unermesslich, den leisen Seufzer hatte sie hoffentlich nicht bemerkt, sie glaubte sicher, dass ich am letzten gemeinsamen Tanzvergnügen mit den Internatsschülern gern teilnehmen würde.

Im Dorf wartete ein Freund und im Schrank meiner Eltern mein Festkleid, das ich gern zum Tanz anziehen wollte. Die Entscheidung war hart für mich. Eine telefonische Verbindung war nicht möglich. Ich holte mein Fahrrad aus dem Internatskeller und fuhr 20 km, um beide Probleme zu lösen.

Abends erschien ich pünktlich im Festkleid allein beim ersten Takt der Tanzmusik am Tisch meiner Mitschüler. Noch immer mit wehmütigem Gefühl kreisten meine Augen im Saal umher. Plötzlich entdeckte ich einen jungen Mann, der auf seinem Stuhl fest eingeschlafen war und nicht einmal beim Trommelschlag die Augen öffnete. Wir machten unsere Späße über diese »Schlafmütze« und passten auf, wann dieser schöne Mann wohl aufwachen würde.

Ein feuriger Walzer begann, die Schlafmütze hob den Kopf, schaute über die Tanzfläche, ich geriet wohl zuerst in sein Blickfeld, und er bat um den Tanz mit mir.

Seitdem tanzen wir schon 60 Jahre gemeinsam durchs Leben. Der 1. Mai ist immer noch ein Feiertag für uns beide, und wir schweben im Glück mit über 60 imaginären bunten Luftballons hoch über den Wolken, wenn es um die Liebe geht.

Nachtrag auf Wunsch unserer Kinder und Enkelkinder, die ihren Vater und Großvater niemals als »Schlafmütze«, sondern stets mit hellwachem Geist und nimmermüden Händen erlebten.

Edith Ockel, 10315 Berlin

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