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Verfassungswidriger Rekord

Insbesondere die schweren Sanktionen sind mit dem Grundgesetz kaum vereinbar

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 3 Min.
Obwohl die Zahl von Hartz-IV-Beziehern rückläufig war, verzeichneten die deutschen Jobcenter im Jahr 2012 einen neuen Rekord bei den Sanktionen. Dabei wurden Langzeitarbeitslose mehr als eine Million mal für ihr »Fehlverhalten« bestraft. Die Zahlen dürften wieder jenen Auftrieb geben, die das ganze Sanktionssystem für verfassungswidrig halten.

Die Nachricht, die am Mittwoch aus Nürnberg kam, konnten eigentlich nicht überraschen. Seit Jahren nimmt die Zahl der gegen Hartz-IV-Bezieher verhängten Sanktionen kontinuierlich zu. Und so verwunderte es nicht, dass gestern ein neuer Rekord vermeldet wurde: Noch nie hatten die deutschen Jobcenter innerhalb eines Jahres so viele Sanktionen ausgesprochen wie 2012. Insgesamt erließen sie im vergangenen Jahr 1,024 Millionen sogenannte Strafkürzungen. Das sind beinahe 98 000 mehr als 2011. Ein Plus von rund 11 Prozent. Im Jahresdurchschnitt waren 150 300 erwerbsfähige Leistungsberechtigte mit mindestens einer Sanktion belegt, also rund 3,4 Prozent.

Wie die Bundesagentur für Arbeit (BA) in Nürnberg erklärte, sei der Anstieg allein auf eine vermehrte Anzahl von Meldeversäumnissen zurückzuführen. Sie hatten im Vergleich zum Vorjahr um 107 500 auf mehr als 700 000 zugenommen. Das entspricht einem Anteil an allen Sanktionen von rund 70 Prozent. Lediglich 13 Prozent der Strafen wurden wegen Ablehnung einer Beschäftigung, Ausbildung oder Bildungsmaßnahme ausgesprochen.

Wann wird gekürzt? / Interview Zimmermann
 

Sanktionen gibt es aus verschiedenen Gründen

Oft ist in den Medien von Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher die Rede. Doch aus welchen Gründen darf das Jobcenter die Leistungen seiner »Kunden« kürzen? Im zuständigen Sozialgesetzbuch (SGB) II werden folgende Gründe genannt: Verletzung der Pflichten der Eingliederungsvereinbarung; Weigerung, eine Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheiten (Ein-Euro-Jobs) oder sonstige Maßnahmen aufzunehmen oder fortzuführen. Hinzu kommen die berüchtigten Meldeversäumnisse beim Träger, beim ärztlichen oder psychologischen Dienst. Solche eher kleinen Verstöße gegen die Auflagen sind der Hauptgrund für Sanktionen.

Die Regelungen zur Zumutbarkeit einer Arbeit spielen eine entscheidende Rolle in der Vermittlungstätigkeit der Arbeitsverwaltung. Zumutbarkeitskriterien definieren, bei welchem Stellenangebot das Jobcenter vom Erwerbslosen eine Annahme verlangen kann und wann es mit Sperrzeiten oder Kürzungen drohen muss. Die Sanktionen erfolgen abgestuft; Erst 30, dann 60 und schließlich 90 Prozent. Im schlimmsten Fall gibt es gar nichts mehr. Nach und nach wurde die Schwelle für zumutbare Beschäftigung immer weiter herabgesetzt. Während das SGB III noch eine niedrigschwellige und zeitlich gestaffelte Unzumutbarkeit hinsichtlich des Lohns und der Entfernung der Arbeitsstätte kennt, ist im SGB II jede Arbeit zumutbar. Somit kann man die »Kunden« in jede schlecht bezahlte Arbeit pressen. fal

»Ich kann da keinen Zusammenhang erkennen«

Die Arbeitsmarktexpertin Sabine Zimmermann (LINKE) kritisiert im nd-Interview die Präsentation der Zahlen durch die Bundesagentur.

 

 

 

BA-Vorstand Heinrich Alt versuchte am Mittwoch, die Wogen zu glätten: »Die absolute Zahl mag hoch erscheinen, gemessen an der Gesamtzahl der Leistungsberechtigten haben die Jobcenter nur wenige Menschen sanktioniert.« Ausdrücklich warnte Alt vor einer »Interpretation der Zahlen«. Der Sanktionsrekord sei auf die gute Lage am Arbeitsmarkt und eine intensivere Betreuung in den Jobcentern zurückzuführen. »Wenn wir den Menschen mehr Angebote machen können, nehmen auch die Meldeversäumnisse zu«, so Alt.

Ganz anders sieht das Sabine Zimmermann, die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag: »Der deutliche Anstieg der Sanktionen belegt, dass die Daumenschrauben weiter angezogen werden. Anstatt die arbeitslosen Menschen mit Sanktionsinstrumenten immer mehr unter Druck zu setzen und Leistungen zu kürzen, sollte die Bundesregierung daran arbeiten, wie mehr und fair entlohnte Arbeitsplätze entstehen können.«

Für die Betroffenen kann eine Sanktion finanziell fatale Folgen haben. Im Extremfall können sie mit einer 100-prozentigen Kürzung auf Nulldiät gesetzt werden.

Doch gegen diese Praxis regt sich Widerstand. So verstieß der Erwerbslosenaktivist Ralph Boes ganz bewusst gegen die Auflagen seines Berliner Jobcenters, das seinen Regelsatz daraufhin um 90 Prozent kürzte. Fortan sollte er mit 37,40 statt 374,00 Euro monatlich über die Runden kommen. Weil man davon nicht überleben kann, trat Boes im November 2012 in den Hungerstreik. Er wollte so einen Präzedenzfall schaffen und sich quasi vor das Bundesverfassungsgericht hungern. Sanktionen seien »mit der im Grundgesetz geschützten Menschenwürde nicht vereinbar«, so Boes.

Mit dieser Auffassung ist er nicht allein. So erklärte Werner Hesse, der Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, in einem Interview mit dem ZDF: »Die Mittel völlig zu streichen ist mit der Verfassung nicht zu vereinen. (...) Es kann keinen Totalentzug von Leistungen geben, sondern das Existenzminimum ist zu sichern und sei es notfalls durch Gutscheine oder durch Sachleistungen.«

Dass es sich hier keinesfalls um Einzelfälle handelt, belegt die Statistik der BA. Allein im Jahre 2011 wurden 10 400 Hartz-IV-Bezieher totalsanktioniert.

Der mittlerweile fraktionslose Bundestagsabgeordnete Wolfgang Nešković verweist auf ein Urteil aus Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Juli 2012 die Leistungen für Asylbewerber für »menschenunwürdig« erklärt. Die Richter monierten, dass die Flüchtlinge ein Drittel weniger als Hartz-IV-Empfänger bekämen. Dies sei eine »evidente Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums«. Demnach ist kaum anzunehmen, dass Karlsruhe die 90-prozentige Sanktion von Ralph Boes durchgewinkt hätte. Wohl auch deshalb lenkte sein Jobcenter ein und hob die Kürzung wieder auf.

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