Ganz normaler Wahnsinn

Experten diskutieren über das Thema Kunst und Psychiatrie

Melancholie, Depression, Weltschmerz. Gemütszustände, aus denen heraus sich in der Kunst Großes quälte oder befreite (Van Gogh, Büchner, Foster-Wallace, die Liste ist endlos). Psychosen als Ausdruck für die Krankheit unserer Gesellschaft aber seien viel zu selten Gegenstand der Kunst, so der Tenor des Fachpublikums, bestehend aus Krankenpflegern, Oberärzten und Sozialarbeitern, die sich am Mittwochabend in der Neuköllner Oper zu einer »Helferkonferenz der besonderen Art« zusammenfanden. Angelehnt war sie an das Stück »Stimmen im Kopf« (nd-Rezension vom 28.3.), ein Musical, das sich höchst ironisch mit dem Alltag auf einer psychiatrischen Station auseinandersetzt. Den Impuls zu einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema gaben Karin Coper und Götz Strauch, Sozialarbeiterin und Krankenpfleger, die ihre Idee an Regisseur Peter Lund herantrugen.

Alle Schauspieler hatten im Vorfeld viel Zeit in die Recherche gesteckt und Gespräche mit Erkrankten und Klinikpersonal geführt. »Die Schauspieler haben fast schon eine innige persönliche Beziehung zu ihrem Krankheitsbild entwickelt«, erzählt Lund. Er lässt offen, ob damit auch der dargestellte Arzt und die Angehörigen gemeint sind, die in dem Stück genauso mit ihren individuellen Neurosen zu kämpfen haben wie die Patienten. Der Übergang zwischen einem als normal geltenden Geisteszustand und einem pathologischen Befund sei fließend, da sind sich alle einig. Auch von Patienten als »Betroffene« möchte eigentlich niemand der Anwesenden sprechen.

Von der Realitätsverzerrung am schlimmsten betroffen sind ausgerechnet Ärzte, wie Dr. Thomsen, der in der Aufführung keinen einzigen sympathischen, weil menschlichen Charakterzug zugesprochen bekommt. Als gnadenlos selbstherrlicher, tablettensüchtiger Ignorant ertränkt er alles Zarte, zerbrechliche, zweifelnde in seinen Patienten und sich selbst unter einer Flut an Valium und Ritalin. Ein Medikament hält den Wahnsinn des anderen in Schach. Nebenbei tanzen knapp bekleidete Krankenschwestern das Ego ins Delirium. »Die Ärzte sind auf Station die Ungleichen unter den Gleichen, deshalb ist es in Ordnung, wenn sie auf die Mütze bekommen«, gibt Oberarzt Olaf Hardt zu. Er arbeitet im Vivantes Klinikum Neukölln in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie.

Genauso wenig Verständnis für die entrückte Welt der Depression oder Schizophrenie zeigen die Angehörigen im Stück, wenn sie nicht sogar oft der Auslöser einer Psychose sind. Nadine hört eine Stimme in ihrem Kopf. Immer, wenn sie Rat braucht, oder sich alleingelassen fühlt, gibt ihr »Daniel« Halt, den ihr die Familie nicht geben kann. Die zwingt sie zum Funktionieren.

Eveline Grimm, Psychiatriekoordinatorin des Bezirks Neukölln zeigt sich fasziniert von der Sensibilität der Schauspieler und ihrer Annäherung an ihre Rollen, trotz des Lauten, des Übertriebenen, das dem Musical innewohnt. »Das Thema gehört in die Mitte der Gesellschaft«, sagt Grimm. Viele pflichten ihr bei, es handle sich bei der Aufführung nicht um ein Betroffenentheater für Experten und Familienangehörige. Eine Patientin aus dem Übergangswohnheim des Unionhilfswerkes in Neukölln gesteht, dass sie froh war, ihre Geschichte erzählen zu können, um vermeintlich gesunden Menschen ihre Sicht auf die Welt darzulegen. Die Schauspieler hatten sich mit ihr mehrere Male getroffen, bevor die ersten Proben stattfanden. Widerspruch, vor allem an der Wahl des Genres, kommt von einer Künstlerin im Publikum, die selbst in psychiatrischer Behandlung ist. Sie habe sich an vielen Stellen vorgeführt gefühlt, sie nimmt das Wort »verarscht« in den Mund. Ihre Krankheit äußere sich zumeist leise, ist bedrückend und nicht schrill, temporeich und amüsant. Sie habe, sagt sie, die Nachdenklichkeit, die das Leben vieler Erkrankter bestimmt, im Stück vermisst. Lund weiß das natürlich zu widerlegen.

Oft ist von Parallelen zwischen Kunst und Wahnsinn die Rede. Darstellerin Marion Wulf fühlt sich allein durch den Gesprächskreis aus der klassischen Psychotherapie an ihren eigenen Beruf erinnert und bringt noch einmal die zentrale Frage des Stückes auf den Punkt: Wer ist eigentlich nicht Teil des »Clubs der Bekloppten«?

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