Abend der Kontrahenten

Günter Herbig dirigierte in Berlin Regers Violinkonzert und Brahms’ 1. Sinfonie

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 3 Min.

Da ist zunächst das Programm: Der Jüngere wider den um anderthalb Generationen Älteren. Romantische Flexibilität versus Romantik aus dem Geist der Klassizität. Die Konzertform im ideellen Streit mit der Sinfonieform. Ein Abend der Kontrahenten. Reger - Brahms. So weit liegen die doch nicht weg voneinander, mögen Hörer wie Leser meinen. Gewiss. Doch die Differenz überwiegt. Beide Komponisten sind von der klassischen Konzeption ergriffen, treten aber sehr verschieden aus ihr heraus. Reger, Verarbeiter Bachs, der Polyphonie, des Kontrapunkts, der gewitzten, nachgerade permanenten Auffädelung von Harmoniefolgen in engsten Zeitmaßen; Brahms, fünfzehn Jahre sitzend an seiner 1. Sinfonie, demutsvoll schauernd vor dem Monolith der neun Sinfonien Beethovens, schreibt sich um diesen herum die Gelenke wund, um der Absicht willen, es möge ihm Eigenes gelingen. Was ist ein Schaffen ohne das Erschaffen über alle Klippen hinweg?

Und da ist Günter Herbig, Dirigent des Abends, wohl wissend um jene brisante Werk-Konstellation. Er bringt die junge, leidenschaftliche Violinistin Tanja Becker-Bender mit. Ein Glücksfall. Sensationell die Aufführung des Regerschen Violinkonzerts A-Dur op. 101. Der Dirigent, Jahrgang 1931, stammt aus Böhmen. Herbigs Entwicklungsgang hat seinen Ursprung in der DDR. 1966, nach Engagements in Weimar und Potsdam, wird er Zweiter Dirigent des Berliner Sinfonie-Orchesters (BSO, heute: Konzerthausorchester) hinter Kurt Sanderling. Dieser fördert ihn nach Kräften und lässt ihn tun, was er nicht in jedem Falle selber tun will, nämlich neue Musik von DDR-Komponisten aufführen (Eisler, Katzer, Matthus, Zechlin, Manfred Schubert etc). Fortan erklimmt er die Leiter. Herbig schruppt sich regelrecht hinauf, wird Generalmusikdirektor und übernimmt 1972 die Leitung der Dresdner Philharmonie (bis 1977). Auch dort wartet - neben der älteren - neue Musik darauf, aufgeführt zu werden (Jentzsch, Kunad, Thiele etc.). Hohe Ehre: Regelmäßig gastiert er während dieser Zeit erfolgreich am Pult der Staatskapelle Berlin. Nach dem Ausstieg Sanderlings, der es vorzieht, als Dirigent um die Welt zu jetten, übernimmt Herbig die Chefposition des BSO. 1983 verlässt er die DDR und übersiedelt in die USA und nach Kanada (Chef der Symphonieorchester in Detroit und Toronto). Nach Europa zurückgekehrt, betätigt er sich als freier Dirigent, stets gefragt und umworben. Unermüdlich dieser Pultarbeiter, wachen Geistes noch im Alter. Fühlbar auch in diesem Konzert.

Regers dreisätziges Violinkonzert A-Dur op. 101 eröffnete den Abend. Herausforderung für alle Ausübenden. Ein Riesenkorpus. Allein der erste Satz, halbstündig, sprengt alles Herkömmliche. Schon die ersten Takte reden Klartext. Eine Girlande von Akkorden schlängelt sich durch die Orchestergruppen, so dass die enormen Modulationskünste des Frühgestorbenen (1916) sofort gewärtig sind. Alsdann in diskontinuierlichen Schüben der Abtausch und das Ineinandergreifen von Solo und Tutti.

Solistin Tanja Becker-Bender braucht keine Noten vor sich, die hat sie im Kopf, Reger ist nicht so leicht zu merken. Ein Freude, die Spielerin zu erleben, wie sie die teils jäh wechselnden Ausdruckswerte aus der Musik mühelos heraus treibt. Nicht minder inspiriert umgesetzt der melisch beseelte zweite und der zuletzt rigide auftrumpfende Schluss-Satz. Getragen von einem keineswegs überfülligen Orchesterapparat (ohne Posaunen und Schlagzeug, mit zweifach besetzten Holzbläsern, zwei Trompeten, vier Hörnern, Pauken, Streicher).

Den Zeitgenossen schien dies Werk, komponiert zwischen 1904 und 1909, maßlos. Chaos regiere, Gewalt. Die Art der Behandlung des Soloinstruments sei - Getön nicht nur von Konservativen - abzulehnen. Der heutige Blick auf das selten gespielte Werk und dessen Aufführungsgeschichte widerlegen derlei gründlich. Zumal jene grandiose Umsetzung im Konzerthaus. Die abschließend solide aufgeführte 1. Sinfonie von Brahms wirkte gegen den Reger in Teilen - der Meister verzeihe das Wort - hölzern.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal