Noch ein linker Aufruf: für ein egalitäres Europa

Über die organische Krise der EU, das neue »Argument« und die Suche nach progressiven Pfaden

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 5 Min.

Auch wenn der Aufmerksamkeitspegel der linken Euro-Debatte der vergangenen Wochen inzwischen wieder etwas gefallen ist, geht die Diskussion doch und man darf sagen: zum Glück weiter. Das Themenfeld ist seit langem einigermaßen vermint, an den Rändern der Argumentationen lauern Populismusvorwürfe und Anpassungsschelte. Außerdem ist Wahlkampf, da wird auch schon einmal empfohlen, sich die Diskussion lieber zu sparen.

Was das Problem der Linken freilich nicht löst, sondern bloß aufschiebt: Die Krise verlangt nach neuen Antworten. Die Europäische Union, das politische „Projekt Europa“ stecke in einer mit Gramsci gesprochen „organischen Krise“, wie es in der Einleitung zur neuen Ausgabe von „Das Argument“ heißt. In der überlagern sich „ökonomische, soziale, kulturelle und politisch-institutionelle Krisenprozesse, die einander verstärken und bewirken, dass ihre Überwindung im vorhergehenden Entwicklungsmuster nicht mehr möglich und ein neuer Pfad ihrer Überwindung noch nicht absehbar ist“. Was für den herrschenden Block teils divergierender Interessenlagen ebenso gilt wie für die nach Veränderung unterschiedlicher Reichweite strebenden gesellschaftlichen Linken.

Was „Das Argument“ unternimmt, nämlich den „Versuch, die Debatte zwischen Europa-Skepsis und Europa-Euphorie neu zu beleben und zugleich die europapolitischen Perspektiven zu korrigieren und zu erweitern“, wird auch darüber hinaus auf der linken Agenda bleiben - unabhängig von der Erwägung, ob solch ein Thema im Bundestagswahlkampf zieht oder damit innerparteilicher Landgewinn markiert werden kann: in der kommenden Woche bei den Blockupy-Aktionstagen, später beim Alter Summit in Athen, in der fortschreitenden Vernetzung von „Empörten“, linken Parteien usw. Und nicht zuletzt mit Blick auf die in einem Jahr bevorstehenden Europawahlen. Die „andere Seite“, selbst kein monolithischer Block, ist ebenfalls dabei, den noch nicht gefundenen „neuen Pfad“ der Überwindung der organischen Krise zu suchen.

Diese Suche hinterlässt längst prägende Spuren, man kann wie „Das Argument“ sagen, dass durch die „Hintertür“ ein faktischer Neugründungsprozess der europäischen Integration längst eingeleitet ist - wobei die Konkurrenz von Interessen zu lautstarkem Knirschen führt, wie etwa die Diskussionen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich um den „Rettungskurs“ zeigen. Und die Linken? „Auf der einen Seite werden progressive Kräfte und Allianzen durch die Erweiterung der ökonomischen zur sozialen und demokratiepolitischen Krise geschwächt, während die transnationalen Konzern- und Finanzinteressen die politische Agenda bestimmen“, heißt es im neuen „Argument“-Heft. Aber „auf der anderen Seite verschärfen die produzierten Ungleichheiten der herrschenden Krisenregulierung die Widerstände“.

Dazu gehören auch die Aufrufe für ein anderes Europa, Versuche einer progressiven Neugründung, Ausdruck der linken Suche nach einem „neuen Pfad“. Das gilt für den inzwischen ein wenig in Vergessenheit geratenen gewerkschaftlichen Aufruf „Europa neu begründen“ vom vergangenen Frühjahr, das gilt für den gerade veröffentlichten Aufruf "Europa geht anders", eine ganze Reihe von längeren europapolitischen Positionierungen zur Krise und zu Alternativen zum Beispiel aus dem Institut Solidarische Moderne. Und das gilt für den nun veröffentlichten „Aufruf für ein egalitäres Europa“, der den Reigen der linken Stellungnahmen ergänzt. Auch in diesem, unter anderem von Karl Heinz Roth, Zissis Papadimitriou und Angelika Ebbinghaus unterstützten Plädoyer, steht die Frage nach linken Konzepten zur Überwindung der Euro-Krise im Mittelpunkt.

Die bisher formulierten Strategien - der Aufruf nennt drei die linken Diskussionen beherrschende Linien - würden allesamt mit „gravierenden Nachteile und erheblichen Gefahren“ einhergehen. Eine glaubwürdige Perspektive müsse hingegen „vier entscheidenden Anforderungen genügen. Sie sollte sich erstens am sozialen Massenwiderstand gegen die Übertragung der Krisenkosten auf die unteren Klassen orientieren“. Sie sollte zweitens „den materiellen Interessen aller Schichten der subalternen Klassen – arbeitende Klassen und untere Mittelschichten – gerecht werden. Sie sollte drittens ,entscheidende Reformen‘ für alle Bereiche des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens vorschlagen und mit Überlegungen zu einer föderativen Demokratisierung Europas verbinden. Und sie sollte viertens Verknüpfungen zu den weltweiten Sozialbewegungen herstellen, um die Ära der euro-zentristischen Machtpolitik zu beenden.“

Das mit dem Aufruf verbundene „Aktionsprogramm“ positioniert sich parteienskeptisch, bewegungsbasiert und selbstkritisch. Man habe „nur dann eine Chance“, heißt es, wenn linke Aktion und Debatte auf „die konkreten Lernprozesse des sozialen Widerstands sowie der sich entfaltenden Sektoren der alternativen Ökonomie eingeht und anhand der dort gemachten Erfahrungen fortlaufend korrigiert und weiter entwickelt wird“. Vorgeschlagen wird nichts weniger als ein länderübergreifendes „Netzwerk selbstbestimmt und selbstverantwortlich handelnder Initiativen“, die überall „eine Assoziation Egalitäres Europa“ begründen sollen.

Verglichen mit anderen linken Appellen der vergangenen Monate geht der Aufruf von Roth und anderen, der auf einer im kommenden August erscheinenden Flugschrift „Die Katastrophe verhindern – Manifest für ein egalitäres Europa“ basiert, inhaltlich einen Schritt weiter, indem er Aspekte politischer Veränderung einbezieht, die bei anderen Aufrufen außen vor bleiben - etwa ökologiepolitische Fragen, das EU-Grenzregime oder die Geschlechterpolitik. Außerdem stützt sich der Aufruf auf eine Tradition linker Geschichte, die in der bisherigen Eurodebatte der Linken kaum vorkam: Er bezieht sich „auf die programmatischen Erklärungen mehrerer linkssozialistischer Widerstandsgruppen (...), die zu Beginn der 1940er Jahre mit den zerstörerischen Normensystemen des Nationalstaats brachen und sich für eine Föderative Republik Europa aussprachen“. Es gehe selbstverständlich nicht darum, „bruchlos“ an diese Visionen anzuknüpfen, heißt es in dem Aufruf. Aber die Ideen von damals sind auch nicht nur Vermächtnis - sie können den Debatten über linke Auswege aus der Krise und Alternativen zum herrschenden Europa wichtige Impulse geben.

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