Das schießende Klassenzimmer

Machen gewalthaltige Computerspiele aggressive Jungs? Nein, die sozialen Verhältnisse sind es

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 6 Min.

Dieses Buch steht trotz seiner offenkundigen Gewaltverherrlichung nicht auf dem Index jugendgefährdender Schriften. Die Geschichte ist schnell erzählt: Zwei verfeindete Jugendgangs tragen einen Straßenkrieg miteinander aus. Es kommt zu einer Entführung, vor Folter wird nicht zurückgeschreckt. Zur Befriedung des Konflikts schlägt ein im Hintergrund die Fäden ziehender Erwachsener einen Einzelkampf zwischen je einem Vertreter der verfeindeten Clans vor. Ohne Erfolg, die unterlegene Partei weigert sich, den Gefangenen frei zu lassen, der Kampf geht weiter. Es fließt Blut und am Ende bricht sich ein Junge beim Sprung von einem Dach die Knochen.

Das Buch hat keine Altersbeschränkung und auch die Verfilmung aus dem Jahr 1973 ist ab sechs Jahren freigegeben. Ein Skandal? Nein! Das Buch heißt »Das fliegende Klassenzimmer« und gehört zum Kanon der deutschen Jugendliteratur, sein Verfasser, Erich Kästner, zu den bekanntesten und beliebtesten deutschsprachigen Autoren. Dass es dennoch nicht auf dem Index steht und die dazugehörigen Verfilmungen als jugendfrei gelten, ist indes kein Zufall oder gar ein Versäumnis der Kontrollinstanzen. Bücher und Filme gehören zu den »alten Medien«, sie sind den Erwachsenen vertraut, gehören mittlerweile zum kulturellen Repertoire.

Die heutige Elterngeneration kann recht gut einschätzen, welche Filme für ihre Kinder geeignet sind und welche nicht. Seit Kurzem zeigt ein TV-Sender die »Alien«-Filmreihe. Die einzelnen Teile mit den außerirdischen Monstern laufen zu einer Sendezeit, in der durchaus auch Zwölfjährige noch vor dem Fernseher sitzen. Die Programmverantwortlichen vertrauen mittlerweile auf die Medienkompetenz der Eltern. Und die Wissenschaft? Die hat sich längst vom angeblich schädlichen Einfluss des Fernsehens oder von Filmen auf den Charakter der Heranwachsenden abgewandt.

In Zeiten, in denen der Fernseher zum Hintergrundrauschen des ganz normalen Familienalltags gehört, Dutzende Kanäle rund um die Uhr das Publikum schon beim Frühstück berieseln, verliert das Medium Fernsehen bezüglich der Gewaltproblematik seinen wissenschaftlichen Reiz. Das war früher anders. Wissenschaftler der Columbia University haben in den 1980er Jahren in einer Langzeitstudie die Auswirkungen exzessiven Fernsehkonsums auf aggressives und antisoziales Verhalten vor allem von Jungen untersucht. Ergebnis: Wer viel TV sieht, neigt zu gewalttätigem Verhalten.

Neuere Studien über den Zusammenhang zwischen dem Konsum gewalthaltiger PC- bzw. Videospiele und aggressivem Verhalten kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Thomas Mößle und Matthias Kleimann vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen etwa halten den Beweis für erbracht, dass das Abschlachten von Zombies oder das Töten von gegnerischen Soldaten wie z.B. in »Call of Duty - Black Ops 2« (sogenannte Ego-Shooter) auch im realen Alltag die Gewaltneigung der Jugendlichen fördert. Es komme zu einer »Abstumpfung gegenüber Gewalt sowie einer Reduzierung der Mitleidsfähigkeit beim Anblick realer Gewalt (Empathie)«, schrieben die beiden Forscher 2009 in der Zeitschrift (»Kinderärztliche Praxis«. Gewalthaltige Spiele hätten einen deutlich stärkere aggressionsfördernde Wirkung auf ihre Konsumenten als entsprechende Filme, da die Spieler anders als die Zuschauer von Filmen stärker emotional in die Handlung eingebunden seien.

Belegt wird diese These mit eindrucksvollen Studienergebnissen. So zeigten 20-Jährige, die seit ihrer Jugendzeit häufig »Ego-Shooter« spielen, bei denen sie in eine fiktive Rolle schlüpfen und Gegner so realistisch wie möglich getötet werden, im Test nicht nur eine empathisch abgeschwächte Reaktion auf Gewaltbilder, sie demonstrierten auch bei »verhaltensnahen Aggressionstest« eine geringere Hemmschwelle, Mitmenschen Gewalt anzutun. Auch wenn die Studie mit einer Zahl von 39 Probanden zu klein ist, um eine verallgemeinernde Aussage treffen zu können, wird sie immer wieder zu Begründung der These zitiert, dass gewalthaltige Computerspiele gewalttätiges Verhalten fördern.

Stimmt es also, dass gewalthaltige Videospiele den Killerinstinkt in den Jugendlichen wecken? Man könnte es angesichts solcher Studien glauben, doch so naheliegend einfach ist der Schluss dann doch nicht. Die Wirklichkeit ist etwas komplizierter. Das »Ego-Shooter«-Spiel »Call of Duty« gehört zu dem beliebtesten und am häufigsten gespielten Ableger seines Genres in der Altersklasse der 13- bis 17-Jährigen - und das, obwohl das Spiel eine Altersfreigabe erst ab 18 Jahren hat. Bei einer Befragung von 1000 Berliner Grundschülern (jünger als zwölf Jahre) gaben 22 Prozent der männlichen Viertklässler an, bereits solche Spiele zu konsumieren. Die Produzenten wissen das, die Verkäufer wissen das - und es ist davon auszugehen, dass die meisten Eltern, die diese Spiele ihren Kindern (in der überwiegenden Mehrzahl sind es Jungs) kaufen, es ebenfalls wissen.

Der tatsächliche gewaltfördernde Effekt lässt sich kaum belegen. So ist die Zahl der körperlichen Gewaltdelikte, die von Jugendlichen begangen werden, seit Jahren rückläufig. Zwar gibt es in der Statistik immer wieder Ausschläge nach oben, aber der Rechtswissenschaftler Gerhard Spiess von der Universität Konstanz weist darauf hin, dass dies an einem sensibleren Anzeigeverhalten gegenüber der Polizei liegt.

Ein statistischer Zusammenhang zwischen jugendlichem Gewaltverhalten und gewaltakzeptierenden Videospielen besteht allerdings durchaus - jedoch ist dieser nicht monokausal. Selbst bei Mößle und Kleimann kann man das zwischen den Zeilen herauslesen. Gewaltakzeptanz sei »eng verknüpft« mit Gewalterfahrungen im sozialen Nahfeld. Wer körperlicher Gewalt im Elternhaus ausgesetzt sei, im Freundeskreis Gewalt erlebe und gewaltverherrlichende Spiele exzessiv konsumiere, neige dazu, den körperlichen Angriff als bestes Mittel der Konfliktlösung (»Gewaltprävalenz«) zu sehen. Der Zusammenhang zwischen Gewalt im Elternhaus, gewalthaltigen Videospielen und Gewaltprävalenz ist dabei evident. Jugendliche (meist Jungs), die von den Eltern geschlagen werden, aber keine Gewaltspiele konsumieren, werden deutlich weniger oft zum Gewalttäter als die »Ego-Shooter« an der Spielekonsole.

Allerdings haben Mößle und Kleimann noch etwas anderes herausgefunden. Die Präferenz für gewalthaltige Computerspiele hat einen viel geringeren Einfluss auf empathisches Empfindungsvermögen als angenommen. Ausschlaggebend ist zumindest bei den Jüngeren die Spieldauer. Das legt den Schluss nahe, dass Zwölfjährige ihre Freizeit deshalb ausschließlich als virtueller Zombie-Schlächter verbringen, weil sie kaum noch soziale Kontakte haben und von den Eltern emotional vernachlässigt werden, also über all das nicht verfügen, was wichtig ist, um empathische Fähigkeiten zu erlernen. So, wie extensiver TV-Konsum in früherer Zeiten ein Indiz für familiäre Verwahrlosung und soziale Isolation war, ist exzessiver Spielekonsum also heute ein Hinweis auf eine allgemein defizitäre Entwicklung.

Am Pranger stehen gerade in den Medien häufig nicht diese Verhältnisse, sondern - pauschal (dass Ego-Shooter bisweilen in der Tat moralisch fragwürdige Botschaften propagieren, ist nicht zu leugnen) - die Computerspiele. Das ist bequem. Um auf den eingangs erwähnten Jugendroman von Erich Kästner zurückzukommen: »Das fliegende Klassenzimmer« wurde drei Mal verfilmt, 1954, 1973 und 2003. In den ersten beiden Filmen hatten die Gewaltszenen ihren - berechtigten - Platz, in der Verfilmung von 2003 wird auf die im Buch ausführlich dargestellten Massenprügelszenen weitgehend verzichtet. Die Internatsschüler sind friedliebende Jugendliche. Die Faustkämpfe aus dem Original werden zum »Schulmobbing« umgeschrieben.

Und da wundern wir uns, dass Jungs nach der Gewalt der Computerspiele gieren, weil sie in der den Erwachsenen genehmen Eia-popeia-Welt keinen Kick mehr erfahren dürfen?

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