Werbung

Das Blitzlicht der Chinesen

Wiener Festwochen: »Letzte Tage. Ein Vorabend« von Christoph Marthaler. Eine Theatererschütterung

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Reden mag Silber sein, bare Münze ist es nicht. Jeder weiß doch genau, was er sagen darf und was er verschweigen muss. Andernfalls wäre man ein unmöglicher Mensch. In uns tobt fortwährende Unterdrückung. Das will ausgehalten sein. Daher Musik und Gesang. Im Singen ist Lügen am schönsten: Zu dir, o Liebe, fliegt mein Herz - sagt die Oper. Aber der Dolch ist meist schneller. Noch schneller freilich ist die Selbsttäuschung: Gestorben muss werden, aber bitte: schön soll es sein. Und ein Sterben, das andere trifft. Nicht, dass wir teilnahmslos blieben: Wir geben den Applaus. Und summen mit, wenn das Lied vom Tode nur recht eingängig ist.

Das Grausame und das Schöne. Das Heucheln und das Meucheln. Das Singen, das mitunter zum Schreien ist. Und der Schrei ist Diener zweier Herren: der Lust und des Leides. In Christoph Marthalers Inszenierung »Letzte Tage. Ein Vorabend«, aufgeführt zu den Wiener Festwochen, wird gesungen und geredet. Es wird grausam geredet und schön gesungen. Grausam, wie da schön gesungen wird, während alle nur grausam schönreden. Theater nicht im Theater, sondern auf der Bühne, wo Demokratie gespielt wird: im goldprangenden historischen Sitzungssaal des österreichischen Parlaments in Wien. Holzstühle im Rund, weiße Säulen (Raum: Duri Bischoff).

Letzte Tage. Ein Vorabend. Das Ende der Katastrophen ist die Ruhepause vor deren Steigerung. Was sich als Befreiung ankündigt, trägt in sich die Keime neuer Besatzung. Was neu und menschlich werden soll, greift zu alten Folterinstrumenten. Es gibt von keinem Zustand eine Stunde Null. Daher braucht die Uhr im Saal keine Zeiger. Wie bei »Murx den Europäer!« in der Berliner Volksbühne. Denn Zeit ist auch eine Lüge. Wie jedes Bild von der Vergangenheit, wenn es helfen soll, Gegenwart misszuverstehen. Wie jedes Bild von der Zukunft, wenn es helfen soll, Gegenwart zu leugnen.

Präsidialer Auftakt: eine Ansprache, gerichtet an den Habsburger Kaiser und Politiker der EU. Liaison von Monarchie und Moderne. Die Jahrhunderte schließen Frieden miteinander, endlich hat man den gemeinsamen Nenner gefunden, es ist das »200. Jubiläum« der Befreiung der Konzentrationslager, und wie beruhigend, so der Redner, dass der Antisemitismus UNESCO-Weltkulturerbe wurde, dies müsse endlich auch für den Rassismus gelten.

Salbungsvoll, immer herzig, immer herzlos, immer eine fast liebenswerte Schwächlichkeit in diesen Figuren, immer aber eine kollektive Grausamkeit, die alles Schwächliche, Gnadenlose, Tückische trägt und schützt. Wo der Weg des Mörderischen gegangen wird, darf es sehr nach Demut und Wehmut klingen.

Marthalers ungelenke, verschrobene, motorisch gebremste, gern an den Gegenständen klebende Macht-Marionetten besäuseln das Publikum in horrender Besonnenheit mit Zitaten aus rassistischen Politikerreden. Töne aus dem faschistischen Einst, Sätze von heute: etwa von Ungarns Premier Orban. Als sei nichts und niemand unsterblich, außer die Redenschreiber. Nichts ist Geifer und Eifer, alles ist Seelenbibbern, miefig, piefig, kleinkariert, es ist dämonisch just durch die geradezu brachiale Bittgeste, mit der die Hassprediger auf ihre Unbelangbarkeit bestehen. Ueli Jäggi hatte einer Putzkolonne den Weg durch die Bänke des Abgeordnetenhauses gewiesen: Ja, Politik aller Couleur war stets Säuberung; Gold muss glänzen überm Teppich, darunter die Wahrheit vor sich hin stinkt; gern wird reiner Tisch gemacht - und alle Fragen werden mit vom Tisch gewischt. Josef Ostendorf spricht über das Problem der europäischen Juden; er spricht fast verschämt, in knurriger Bedrängtheit, wie man von Unwohlsein bedrängt wird. Er spricht Sätze des in Wien noch immer gut beleumdeten Karl Lueger, Bürgermeister bis 1910. »Der Antisemitismus wird verschwinden, wenn der letzte Jude verschwunden ist.« Heutige Adresse des berühmten Burgtheaters: Dr.-Karl-Lueger-Ring.

Erschütternd, was Marthaler gelingt: Das Theater betritt eine politische Kulisse und belebt sie mit historischem Ungeist, der aus dieser Sphäre der Kultur gleichsam aufstieg als Gas der Vernichtung. Das beklemmt, geht unter die Haut, ist ekelerregend und angstmachend nah. Aber da es zugleich Theater bleibt und das Gerede und Getöne als lächerlichstes Theater durchschaubar wird, offenbart sich das viel größere Erschrecken: Wie nur kann es immer wieder gelingen, dass hirnreduzierte Ideologen, minder intelligente Funktionärsseelen, windige Manipulatoren so sehr in die Lage kommen, Weltachsen zu verdrehen.

Marthaler zeichnet den Weg nach, den Sprache geht, wenn sie Dogmatik wird, Vormarsch mit vorgehaltener Rechthaberei wie einem vorgehaltenen Bajonett. Und wie immer sind die Marthaler-Menschen auch in dieser Choreografie des geschichtlichen Wiedergängertums seltsam verschrobene, verschraubte Wesen. Die irgendwann wegsacken, wegnicken, wegkriechen. Die Hauptfrage bei Marthaler: Wer verliert zuerst das Bewusstsein über den Zustand seiner Existenz? Der Mensch wie ein vom All abgesprengter Splitter, der ums Paradies wimmert und sich in Vorhöllen wiederfindet.

Zum erhebenden Teil der Erschütterung steigert sich, wie die Musik des Ensembles »Die WienerGruppe« und der Gesang der zwölf Schauspieler einen Widerstand gegen die Töne der Verhetzung setzen. Erinnerung an verfemte Komponisten aus Tschechien und Polen, Ungarn und Österreich (Bearbeitung: Uli Fussenegger). Spiel geht zur Musik, Musik will hinüber ins Spiel. »Wer bis an das Ende beharrt, der wird selig«. Mendelssohn-Bartholdy. Hier, zum Schluss, Hauptsingsatz einer Prozession aller Spieler, hoch oben im Rang. Das beschworene Ende ist vielleicht schon da: Es ist darin beschlossen, dass die große Menschen-Mühsal, den Hass und den Krieg und den Krieg und den Hass gegenwärtig zu halten, kein Ende hat, und auch jene Mühsal ist nie zu Ende, das Ganze einen Frieden zu nennen. Das ist die ganze erreichbare Seligkeit.

Wenn sie mit einem Messer zwischen den Zähnen in unseren Schlafzimmern steht, »dann werdet ihr die Wahrheit kennen«, so Heiner Müller. Bei Marthaler werden wir auf komischere Art erledigt: Von draußen fotografiert eine Touristengruppe aus China herein, als richte sie ihr Blitzlicht ins höhlentief Abgestorbene, Fossile. Dass im Programmheft vermerkt werden muss, dies gehöre zur Inszenierung - es zeigt nur, wie wahr sie sein könnte: des Westens Heimkunft im Museum für böse, bittere Völkerkunde.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal