Elf Jahre bis zur nächsten großen Flut

Die Elbe in Pirna steigt - langsamer als 2002, aber ebenso hoch

  • Hendrik Lasch, Pirna
  • Lesedauer: 5 Min.
An der Elbe steigen die Pegel - womöglich so hoch wie 2002. In Pirna wurde gestern die Altstadt geräumt. Die Kanzlerin sah davon kaum etwas.

Um 13.14 Uhr ergießt sich ein Strom durch die Dohnaische Straße, eine Fußgängerzone in der Altstadt von Pirna. Kurz vor dem Optikgeschäft »Otto Reuscher« kommt die Welle zum Stehen. Der Strom, der aus einer Traube Journalisten, zahlreichen Bürgern und der Bundeskanzlerin besteht, trifft abrupt auf das Wasser der Elbe, das sich langsam, aber sicher den Boulevard hinaufarbeitet. Drei Stunden, bevor Angela Merkel in der sächsischen Kreisstadt landete, wurden bei »Otto Reuscher« noch Regale und Heizkörper aus dem Laden getragen. Jetzt ist das Geschäft nur noch mit Watthosen zugänglich. Als Merkel der Weg zurück zu ihrem Wagen gebahnt wird, in den sie nach genau 14 Minuten wieder einsteigt, umspült der Tross eine große Lache in der Straßenmitte: Das Wasser sprudelt dort mittlerweile aus der Kanalisation.

Es wird noch eine Weile steigen; mindestens bis Donnerstag, sagt das sächsische Hochwasserzentrum. Während andere Flüsse im Freistaat, darunter Zwickauer und Freiberger Mulde und Weiße Elster, in ihre Flussbetten zurückkehren und in Städten und Dörfern an ihrem Lauf das große Aufräumen begonnen hat, ist »die Elbe jetzt unser Problem«, sagt Martin Socher, Hochwasserexperte im Dresdner Umweltministerium. Die Talsperren an Moldau und Elbe in Tschechien sind voll, die Flutwelle rollt - und wird, davon ist Socher überzeugt, in Dresden eine Höhe von 9,0 Metern erreichen. Als das Elbtal 2002 überflutet wurde, waren es 9,40 Meter. Damals war von einem Jahrhunderthochwasser die Rede. Seither sind ganze elf Jahre vergangen.

Bilder, wie sie nun in Pirna und anderen Städten Sachsens zu sehen sind, sind noch frisch im Gedächtnis. Wieder werden Sandsäcke gefüllt - 1,58 Millionen bisher, sagt Innenminister Markus Ulbig (CDU) am Morgen. Erneut beziehen Helfer aus ganz Sachsen und anderen Bundesländern Stellung an Deichen und Flutmauern. Gut 9400 Angehörige von Feuerwehr, Polizei, Technischem Hilfswerk und Bundeswehr waren es gestern. Militärisch knapp wird berichtet, welche Verteidigungslinien gehalten werden und wo das Wasser siegt. In Meißen etwa erwies sich die Flutmauer als nicht hoch genug; dort ging es nur noch um »Verteidigung, Evakuierung und Rückzug«, formuliert Socher. Auch der Dresdner Ortsteil Gohlis, der 2002 und 2006 überschwemmt war, geht wieder unter. Dort liefen zwar Bauarbeiten an einem alten Deich - konnten aber nicht mehr rechtzeitig abgeschlossen werden.

Manches ist diesmal anders. In Städten wie Dresden hofft man auf besseren Schutz durch neue Flutmauern, wie sie sich etwa in Eilenburg an der Mulde schon bewährt haben. Einige nicht zu schützende Siedlungen wurden 2002 nicht wieder aufgebaut. Markantestes Beispiel ist der Ort Röderau Süd bei Riesa, der abgerissen wurde: »Dort ist jetzt Retentionsfläche«, sagt Ulbig - also Rückhalteraum für Wassermassen. Auch andere Vorkehrungen wurden getroffen: Das Depot der Dresdner Kunstsammlungen befindet sich nicht mehr unter dem Theaterplatz, sondern schwebend und sicher über dem Innenhof des Albertinums. Zudem haben sich die Vorhersage und das Vorwarnsystem deutlich verbessert.

Nicht nur das verhilft in Orten wie Pirna zu Zeitgewinn. Dort waren es im August 2002 die beiden Flüsschen Seidnitz und Gottleuba, die binnen Stunden die Stadt fluteten. Die Gebirgsbäche aus dem Erzgebirge waren nach Sturzregen mit 300 Litern je Quadratmeter enorm angeschwollen. Zeit zum Ausräumen sei damals nicht geblieben, sagt der frühere Eigentümer des »Café Central«, des, wie an der Fassade zu lesen ist, ältesten Cafés der Stadt. Diesmal steigt »nur« die Elbe, gnadenlos, aber immerhin einigermaßen gemächlich. Von einer »organisierten Katastrophe« spricht der Chef der Lokalzeitung, während in der Redaktion die Server heruntergefahren werden. Den Geschäftsleuten bleibt so wenigstens Zeit, ihre Läden zu räumen. Bei »Schuh-Eppstädt« wollte man, wie im Schaufenster zu lesen ist, ab 3. Juni Geburtstag feiern; statt dessen werden Kartons geschleppt. Anderswo sind Sandsäcke gestapelt oder Türen vernagelt und mit Bauschaum abgedichtet. Am »Central« werden sogar die Klingeln abgeschraubt. Auf die Frage, womit er rechne, hält der Handwerker die Hand an den Türrahmen - in 1,60 Meter Höhe; ziemlich genau da, wo die Flutmarke von 2002 prangt.

Dass Zeit bleibt, sich auf die Katastrophe einzustellen, ändert freilich wenig an den düsteren Aussichten. Weil die letzte große Flut erst elf Jahre her ist, erinnern sich die Menschen noch sehr gut daran, wie lange es im Anschluss dauerte, den Schlamm aus den Häusern zu schaufeln und die Mauern zu trocknen. Sie wissen noch, wie viel Mühe und auch Geld notwendig war, bis wieder Kunden und Touristen begrüßt werden konnten - oder Politiker wie der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder. Der SPD-Mann besuchte auch das renovierte »Café Central«, erinnert sich dessen früherer Besitzer: »Der ist bis in die Backstube gerannt.«

Schröder war im August 2002 auch in Sachsen unterwegs gewesen, als der Schlamm noch in den Straßen stand. Entschlossene Auftritte wie der in gelben Gummistiefeln an der Seite des hemdsärmeligen sächsischen Regierungschefs Georg Milbradt in Grimma dürften ebenso zu seiner Wiederwahl einige Wochen später beigetragen haben wie die Zusage hoher staatlicher Hilfen. Als Merkel gestern in schwarzen Lederschuhen neben Milbradt-Nachfolger Stanislaw Tillich in der volllaufenden Pirnaer Fußgängerzone steht, verspricht sie zunächst nur Soforthilfen in Höhe von 100 Millionen Euro, auf die die Länder noch einmal so viel Geld draufpacken sollen. Das Geld solle »schnell und unbürokratisch« gezahlt werden, sagt sie, bevor sie nach knapp einer Viertelstunde an die Weiße Elster nach Greiz weiterfliegt.

Freilich: Noch weiß man in Pirna ja nicht einmal, welche Schäden die Elbe diesmal anrichtet. Die Flut kommt erst noch. Und dagegen ist, wie man im »Cafe Central« schulterzuckend feststellt, sogar die sonst so mächtige Kanzlerin machtlos: »Frau Merkel kann das Wasser auch nicht aufhalten.«

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