Entlastung für Zschäpe?
Neue Ungereimtheiten beim NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München
Es ist so eine Sache mit dem Angeklagten Carsten Schultze − vergangene Woche erinnerte er sich nur mäßig bis gar nicht, gestern jedoch machte er glauben, dass die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe vermutlich viel weniger von den Verbrechen der NSU-Bande gewusst hat, als die Anklage behauptet. Als Schultze sich auf Weisung des heutigen Mitangeklagten Ralf Wohlleben mit den abgetauchten Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Chemnitz traf, um ihnen die spätere Mordwaffe zu übergeben, hätten die beiden Uwes berichtet, dass sie eine »Taschenlampe« in ein Nürnberger Geschäft gestellt hätten. Zschäpe sei zu der Runde hinzugekommen, und einer der beiden hätten gesagt: »Pssst, damit sie es nicht mitbekommt.« Die Bundesanwaltschaft legt Zschäpe Mittäterschaft bei allen Verbrechen der Neonazi-Terrorgruppe zur Last, darunter zehn Morde. Schultze betonte, er habe nicht gewusst, was mit der Taschenlampe gemeint war, später jedoch befürchtet, dass die Uwes über eine Bombe gesprochen haben könnten. Von einem solchen Anschlagsversuch ist bislang nichts bekannt. Bislang ging man davon aus, dass der NSU seinen ersten Bombenanschlag 2001 in Köln verübte.
Das Gespräch zwischen den drei untergetauchten Neonazis und Schultze soll Ende 1999 oder Anfang 2000 im Café der Galeria Kaufhof in Chemnitz stattgefunden haben. Die Aussage bietet Grund zu neuen Recherchen, denn das damals angeblich modernste Warenhaus Europas, die Galeria Kaufhof in Chemnitz, wurde erst im Oktober 2001 eröffnet.
Während man die Beschreibung des Waffenboten quasi als für Zschäpe entlastend werten könnte, hat der angeklagte frühere NPD-Funktionär Wohlleben ein zusätzliches Problem. Schultze erzählte, der habe nach einem Telefongespräch mit den Uwes gelacht und gesagt, die Kameraden hätten einen Menschen angeschossen. Wohlleben sei, so erzählte Schultze, bei einem Überfall auf zwei junge Männer in Jena dabei gewesen und habe ihm gesagt, dass er dem einen ins Gesicht gesprungen sei. Das könnte man als Mordversuch werten, der verjährt nicht. Doch auch Schultze hatte in der vergangenen Woche zugegeben, mitgetan zu haben, als zwei junge Leute krankenhausreif geprügelt wurden.
Gleichfalls gestern kam heraus, dass die Bundesanwaltschaft im NSU-Ermittlungsverfahren weit mehr Personen auf Verbindungen zur Terrorzelle überprüfte, als bislang bekannt war. In einer aktualisierten Liste würden 500 Personen aufgeführt, »die im Ermittlungsverfahren abgeklärt wurden«, sagte Oberstaatsanwältin Anette Greger vor Beginn des gestrigen achten Verhandlungstages.
Bislang war stets nur von einer 129er und einer 300er Liste die Rede. Auf ihr stehen neben den toten NSU-Terroristen Mundlos und Böhnhardt alle fünf Angeklagten, weitere Beschuldigte sowie mögliche Kontaktpersonen. Bundesanwalt Herbert Diemer relativierte die Angaben seiner Kollegin. Es handele sich bei den neuen Akten um sogenannte Spurenakten, die für das Verfahren »null Bedeutung« hätten. Der Chefankläger versicherte: »Wir haben nichts zu verheimlichen.«
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