Bulgariens Neureiche wollen regieren

Was die Proteste des Sommers von denen des Winters unterscheidet

  • Tina Schiwatschewa, Sofia
  • Lesedauer: 4 Min.
Bürgerliche Revolution oder politische Krise? Bulgarien ist wieder einmal in den Fängen öffentlicher Proteste. Täglich finden Massenkundgebungen statt, vor allem in Sofia.

»Das ist Klassenkampf - die Reichen und die Intelligenz protestieren«, sagt Anton Kutew, Mitglied der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP). Provoziert wurde der Aufruhr allerdings durch die Ernennung des Medienmagnaten Deljan Peewski zum Vorsitzenden der Staatlichen Agentur für Nationale Sicherheit (DANS). Peewski, Abkömmling der »alten Eliten«, entstammt einer Familie, die Bulgariens größtes Zeitungs- und Fernsehunternehmen beherrscht. Schon als 21-jähriger Jurastudent wurde Peewski parlamentarischer Staatssekretär und Direktoriumsmitglied des Hafens von Warna. Heute, zehn Jahre später, gehört er zu den reichsten Männern Bulgariens. Als nach seiner skandalösen Ernennung zum DANS-Chef Straßenproteste begannen, verzichtete Peewski auf das Amt und der BSP-Vorsitzende Sergej Stanischew entschuldigte sich öffentlich für den Fehler. Aber die Demonstrationen dauern an.

»Es gibt Parteien, die nach politischer Revanche streben«, kommentierte Stanischew. Das ist richtig, aber die Situation ist komplizierter. Im Winter 2013 hatten Massenproteste gegen Armut und ökonomische Benachteiligung zum Rücktritt der Mitte-Rechts-Regierung unter Boiko Borissow geführt. Die Neuwahlen im Mai widerspiegelten eine polarisierte politische Landschaft: Mitte-Links und Mitte-Rechts waren nahezu gleich stark. Mit Mühe gelang es der linkszentristischen Koalition für Bulgarien unter Führung der BSP gemeinsam mit der Partei der türkischen Minderheit (DPS) eine Regierung zu bilden, geleitet vom Finanztechnokraten Plamen Orescharski. Logisch, dass die Konservativen jetzt das Protestbanner erheben. Aber was steht darauf und wer sind die Demonstranten?

Die Presse ist sich einig: Sie repräsentieren die neue Mittelklasse. Eine Umfrage der Zeitung »Kapital« ergab, dass die große Mehrheit der Demonstranten an den Armutsprotesten im Winter nicht beteiligt war. Gäbe es morgen Neuwahlen, würden die meisten für Mitte-Rechts-Parteien stimmen. Vom »Protest der Schönen und Erfolgreichen« ist in Zeitungen die Rede, die Demonstranten seien »gebildet und kreativ«, es handle sich um »gut bezahlte Führungskräfte und Mitarbeiter internationaler Unternehmen«. Einer bekannte: »Ich habe den Plan Orescharski (das Regierungsprogramm) gelesen, da geht es um Renten und die Erhöhung des Mindestlohns, aber niemand von uns hier arbeitet für den Mindestlohn. Wir alle haben mehr oder weniger normale Einkommen, und wir wollen, dass die Dinge in diesem Land normal verlaufen.«

Laut Eurostat (2011) sind jedoch 45,2 Prozent der Bulgaren von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht, von den Älteren sogar 61,2 Prozent. Das Regierungsprogramm ist ein Wirtschaftsplan, dessen neoliberaler Charakter daran zweifeln lässt, dass die Bedürfnisse der Armen wirklich befriedigt werden. Aber im Mittelpunkt der Demonstrationen stehen nicht ökonomische, sondern politische Forderungen.

Sofias Bürgermeisterin Jordanka Fandakowa, Mitglied der vormaligen Regierungspartei GERB (Bürger für die Europäische Entwicklung Bulgariens), beschreibt die Demonstranten als »Menschen, die alles selbst erreicht haben, durch Arbeit und Verpflichtungen, ohne Beziehungen«. Diese Leute skandieren »Mafia«, »Rücktritt« und »Roter Müll«. Auch während des Kongresses der Partei der Europäischen Sozialisten (PES), der kürzlich in Sofia tagte, äußerten sie ihren Protest. Auf Transparenten hieß es in Anspielung auf Stanischew, der auch PES-Präsident ist: »Wacht auf, euer Boss ist korrupt!«

Dabei steht die neoliberale Wirtschaftspolitik des Kabinetts gar nicht in der Kritik. Premierminister Orescharski war früher selbst Mitglied der bulgarischen Rechten. Wo also wurzelt die Unzufriedenheit?

Eine neue Mittelklasse ist auf Bulgariens politische Bühne getreten. Sie ist durch ihre Beteiligung an europäischen und globalen kapitalistischen Netzwerken reich geworden. Zu ökonomischer Stärke gelangt, fehlt es ihr bisher an politischer Macht. Die Frage war nur, wann der Widerspruch zwischen den geschlossenen Mechanismen zur Rekrutierung der politischen Elite und der offenen bulgarischen Wirtschaft ausbricht.

Warum aber unterstützt die neue Mittelschicht in diesem Prozess die politische Rechte? »Bulgarien hat heute eine Quasi-Linke und eine Quasi-Rechte«, sagen einheimische Analytiker wie Julius Pawlow. »Die Politik von Mitte-Rechts ist definitiv nach rechts orientiert, bedient sich aber linker Rhetorik ... Auch die Politik der BSP ist eine rechte mit linker Rhetorik, was in ihrem Fall natürlicher ist.« Pawlows Fazit: Seit 1997 hätten alle Regierungen eine rechte Politik betrieben. Nur die Mechanismen zur Rekrutierung der neuen politischen Elite scheinen bei den »quasi-linken« Sozialisten rigider und undurchlässiger zu sein als bei den neuen Mitte-Rechts-Parteien.

Bulgarien befindet sich offenbar im Griff einer Art bürgerlicher Revolution. Wird sie erfolgreich sein? Zweifellos. Neue Mechanismen zur Heranziehung politischer und administrativer Führungskräfte sind bereits in Kraft. Wie die gegenwärtigen Proteste zeigen, werden Abweichungen schnell und entschlossen bestraft. Die neue Klasse hat genügend politische Energie, um den Kampf mit dem Status quo in Bezug auf Offenheit bei der Elitenrekrutierung zu gewinnen. Doch die »neue Elite« ist definitiv »eine Klasse für sich«, sie demonstriert die gleiche gefühllose Missachtung für die arme Mehrheit wie die alte Elite.

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