Die neuen Helden der Arbeit

Leipzig sucht den Superlehrling: Bei der Weltmeisterschaft der Berufe 2013 messen sich derzeit Programmierer, Friseure und Fliesenleger

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.

Stine Birgite Harsem hat eine schwere Aufgabe erwischt. Der Patient, dem die norwegische Krankenschwester aus einem Rollstuhl ins Krankenbett verhelfen muss, wiegt geschätzte 100 Kilo. Unter den gestrengen Augen dreier Prüfer legt sich die blonde junge Frau die Arme des Mannes um den Hals, zählt bis drei und wuchtet ihn in die Höhe. Einen Moment verharren Harsem und der Patient in einer Art inniger Umarmung, dann sinkt letzterer auf das Laken. Zur gleichen Zeit muss Harsems zierliche Landsfrau Marion Luise Linde weniger Kraft aufwenden. Ihre Aufgabe aber dürfte die junge Goldschmiedin kaum als weniger schwer empfinden. Sie sägt, punzt und raspelt an einem sternförmigen Messingteil. Per Schiebelehre vergleicht sie die Maße mit denen auf einer Zeichnung. Dort ist zu sehen, was Linde in einigen Stunden abliefern soll: ein Schmuckstück, das ein wenig an einen sozialistischen Orden erinnert - zum Beispiel an den für einen »Helden der Arbeit«.

Heldinnen der Arbeit könnten auch Harsem und Linde werden. Sie sind zwei von über 1000 Lehrlingen aus der ganzen Welt, die noch bis heute Mittag ihre Champions suchen - bei der »Worldskills 2013«, der Weltmeisterschaft der Berufe, die seit Dienstag auf dem Messegelände in Leipzig stattfindet. In den dortigen Hallen sind nicht nur eine Goldschmiedewerkstatt und etliche Krankenzimmer eingerichtet - samt Bildern an der Wand und Obstschalen auf den Nachttischen. Weil sich die weltbesten Azubis in 46 Disziplinen messen, gibt es auch eine große Autowerkstatt, in der je ein halbes Dutzend fabrikneue Cabrios und Kombis stehen; dazu jeweils lange Reihen von Friseur- und Kosmetiksalons, Blumenläden und Konditoreien. Manche Werkstätten offenbaren ihren Zweck auf den ersten Blick, weil Ziegel oder Fliesen, Heizungsrohre und Elektroschaltkästen für die Wettkämpfer bereitliegen. Andere sind typisch gesichtslose Wirkungsstätten der neuen Arbeitswelt: nüchterne Schreibtische, auf denen Laptops stehen. Dennoch ist die Meisterschaft bunt und vielfältig wie ein Leichtathletiksportfest. Sie riecht aber besser. Während es in der Sportarena höchstens nach Schweiß und Talkum müffelt, steigt in Leipzig auch der Duft von frisch gesägtem und geschliffenem Holz aus der Tischlerwerkstatt in die Nase - oder vom Marzipan, aus dem in der Konditorei kleine Figuren als Krönung einer Torte gebastelt werden.

Die Wettkämpfer, die aus über 50 Ländern von Kanada bis Korea, Thailand, Trinidad und Tobago kommen, dürften für derlei olfaktorische Reize keinen Sinn haben. Sie dürften sich auch für das Geschehen außerhalb der Messehallen wenig interessiert haben - wenngleich es dort diese Woche nicht zuletzt um das Thema Fachkräfte und Ausbildung ging. Bei einem Gipfel in Berlin berieten Europas Spitzenpolitiker darüber, wie viel Geld notwendig ist, um den Millionen Jugendlichen in Südeuropa zu helfen, die wegen anhaltender Krise, maroder Wirtschaft und Spardiktat in ihrer Heimat keine Lehrstelle oder Arbeit finden. In der Bundespolitik wird darüber gestritten, ob einige von ihnen zur Ausbildung nach Deutschland geholt werden können.

Die jungen Leute, die in Leipzig im Wettstreit stehen, haben das indes nicht mehr nötig: Sie sind bereits Fachkräfte, die sich trotz der Altersgrenze von 22 Jahren als so meisterlich erwiesen haben, dass sie zum Weltchampionat geschickt wurden. Hier brüten sie nun konzentriert über Aufgaben, die sie zwar vorab in groben Zügen bereits kannten, deren teils überraschende Details sie aber erst am Beginn des insgesamt 22 Stunden währenden, sehr harten Wettkampfes erfahren.

So finden sich die Fliesenleger vor einer Zeichnung, auf der das Brandenburger Tor zu sehen ist - zu kacheln in Farbe und dreidimensional. Die Maurer sollen eine knapp brusthohe Wand herstellen, die an die Gartenpforte einer deutschen Botschaft erinnert, mitsamt Bundesadler aus 22 per Säge in Form gebrachten ockerfarbenen Ziegeln. Etwas fantasievoller wirkt die Aufgabe, über der Martin Reichert und Thomas Kühler brüten. Die 21 und 22 Jahre alten Jungfacharbeiter aus Erfurt sollen, so lautet das Szenario in ihrer Wettkampfdiszplin »Mobile Robotik«, Schulkinder aus dem Schwarzwald retten - mit der Hilfe eines Roboters, der wie eine Kreuzung aus Keksdose und Mondfahrzeug wirkt und neben Kamera, Sensoren und Rollen auch einen kleinen Gabelstaplerarm aufweist. Mit diesem soll das Fahrzeug schwarze Podeste umkurven, die auf einem Parcours von neun Quadratmetern verteilt sind und Bäume des Waldes darstellen. Dabei sollen sie aus unterschiedlicher Höhe rote Paletten mit je fünf kleinen Holzzylindern greifen - die im Wald verirrten Kinder.

Was schon in der Theorie beeindruckend klingt, erweist sich in der praktischen Umsetzung als kaum zu knackende Nuss. Damit der Roboter die Paletten finden, behutsam einsammeln und in Sicherheit bringen kann, muss er von Reichert und Kühler programmiert, geeicht und mit der erforderlichen Streckenkenntnis versehen werden. Drei Stunden hacken die jungen Männer in die Tasten eines Laptops, gehen auf erste Probefahrten und justieren ihre Maschine neu. Dann endlich steht der erste von zehn Wertungsläufen an. Ihr Roboter verlässt schwungvoll die Startposition - und kracht knapp neben einer Palette in die Bande. Zu viel Tempo, und auch die Höhe habe nicht gestimmt, ärgert sich Reichert, der bis zum vorigen Jahr in einer Erfurter Maschinenbaufirma gelernt hat. Während Japaner und Holländer mit beeindruckender Präzisionsarbeit zahlreiche der »Kinderlein« eingesammelt haben, hat der deutsche Traum von einer WM-Medaille zumindest in dieser Disziplin schon nach nur zehn Sekunden einen herben Dämpfer erlitten.

Franz Havlat weiß, wie sich das anfühlt. Der Automechaniker aus der Lausitz ist in Leipzig quasi Chef der Autowerkstatt und hat mit seiner kleinen Mannschaft dafür gesorgt, dass die Wettkämpfer alle notwendigen Utensilien vorfinden - von den zu reparierenden Fahrzeugen über Hebebühnen und allerlei Prüfgeräte bis zum Schraubendreher. 2011, bei der in London ausgetragenen vorigen Auflage der Berufsweltmeisterschaft, war Havlat indes selbst am Start - als einziger Starter in einer Disziplin, in der Teilnehmer aus dem Autoland Deutschland unter besonderem Erwartungsdruck stehen. Havlat, der im Betrieb der Eltern im sächsischen Großschönau gelernt hat und dort mit Vater, Mutter, Schwester und 13 Angestellten auch heute noch arbeitet, hatte sich hart qualifizieren müssen: über Wettbewerbe im Kammerbezirk Dresden, in Sachsen und dem Bund sowie bei einem Wettstreit mehrerer deutschsprachigen Länder. Damit durfte er zum Londoner Championat reisen - und erlebte dort gleich am ersten Tag einen Blackout: »Ich konnte nicht mehr logisch denken.« Fachlich war er perfekt vorbereitet. Nicht vorbereitet war er auf die ungewohnte Kulisse mit Tausenden Zuschauern, auf Lärm, Trubel und nicht zuletzt den enormen Zeitdruck, unter dem die stets komplizierten Aufgaben zu lösen sind. »Das ist Adrenalin pur«, sagt Havlat, der daher auch weiß, was neben Wissen und Fingerfertigkeit unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg ist. »Man muss den Tunnelblick haben«, sagt er: »Man darf sich von nichts und niemandem ablenken lassen.«

Das ist auch in Leipzig leichter gesagt als getan - in Hallen, in denen es von Zuschauern wimmelt: aufgekratzte Grundschüler, deren Schulen die Patenschaft für einzelne Wettkampfteilnehmer übernommen haben und die nun ihre Helden anfeuern; Teenager, die sich bei der Meisterschaft für die eigene Berufswahl inspirieren lassen sollen; dazu Freunde und Verwandte, Kammerfunktionäre und an gutem Nachwuchs interessierte Firmenchefs. Mit 200 000 neugierigen Besuchern wurde für die Leipziger Weltmeisterschaft, immerhin die erste in Deutschland seit 40 Jahren, gerechnet. Wer in solch einem Trubel bestehen will, braucht Nerven aus Stahl - und eine perfekte Strategie.

Wie diese aussieht und welche womöglich auch regionalen Unterschiede es gibt - dazu lassen sich bei der Weltmeisterschaft interessante Beobachtungen anstellen. Zwar nicht unbedingt bei den Mobilen Robotikern, die ihren Wettstreit zum Großteil über einen Rechner gebeugt bestreiten, wobei die Deutschen Reichert und Kühler ebenso versunken auf den Bildschirm starren wie ihre indonesischen Nachbarn. Bei den Maurern aber ist dem Wettkämpfer aus dem asiatischen Land und dem deutschen Teilnehmer Sebastian Wichern nur gemein, dass beide quasi im Laufschritt arbeiten - wobei ersterer fast tänzerisch wirkt. Doch während er nach kurzer Zeit schon den Sockel der Mauer mit dem Bundesadler errichtet hat, rennt Wichern nur zwischen Ziegellager und Steinsäge hin und her - und hat den Mörtel noch nicht einmal angerührt. Der Arbeitsplatz sieht zwar sehr aufgeräumt aus - im auffälligen Unterschied zum Konkurrenten aus Südkorea, der zwischen wild verstreuten Steinen, Kellen und Wasserwaagen umherwuselt. Auch dort steht allerdings schon eine kleine Mauer.

Kein Grund zur Sorge, sagt der Münchner Kai-Uwe Holtschmidt, deutscher Experte in dieser Disziplin. »Unsere Taktik lautet: erst alles schneiden, dann alles mauern«, erklärt er und gibt sich überzeugt, dass derlei »strukturiertes Arbeiten« eher zum Erfolg führt. Ob das stimmt, bleibt zunächst offen. Abgerechnet wird ab heute Mittag. Dann fragt niemand mehr danach, wie aufgeräumt oder kreativ-chaotisch die Werkstatt aussah - dann entscheiden bei den Maurern Lineal, Lot und Wasserwaage und bei den Robotikern die Stoppuhr und die Zahl der vom Roboter eingesammelten Hölzchen über Gold, Silber und Bronze. Ob dabei ein deutsches »Schraubermärchen« wahr wird, das manche Zeitungen in Anspielung auf das Fußball-»Sommermärchen« von 2006 beschwören, bleibt dahingestellt. Sicher ist: Leipzig hat in dieser Woche gut 1000 junge Helden der Arbeit erlebt.

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