Noch nicht gekentert

Über eine Gesellschaft, die Piraten hervorbringt

  • Bernd Hüttner
  • Lesedauer: 2 Min.

Die Frage, ob die Piratenpartei erledigt sei, ist umstritten. Die These des von Horst Kahrs, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Sozialstrukturanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung, herausgegebenen Buches, lautet: Die Bedingungen für die Möglichkeit eines Erfolges der Piratenpartei sind weiterhin gegeben. Sie wurzeln in der ökonomischen Basis der Gesellschaft, in den veränderten Lebensweisen und vor allem in der veränderten Arbeitswelt.

Bis zur Wahlniederlage bei der niedersächsischen Landtagswahl, bei der die Piraten nur 2,1 Prozent erzielten, wohnte deren Aufstieg ein Zauber inne, der auch viele Linke erfasste. Die überdurchschnittlichen Wahlergebnisse bei den unter 30-Jährigen (in Niedersachsen anfangs über 10 Prozent) verwiesen auf ein großes Potenzial.

Georg Fülberth interpretiert das Entstehen und den Erfolg der Piraten als Begleitumstand der informationstechnologischen Revolution. Wie die Grünen Resultat des Aufstiegs der Intelligenz zur Massenschicht waren, so seien die Piraten Ausdruck des grundlegenden Wandels der Arbeitswelt. Das von ihnen vertretene kreative Milieu beschreibt kenntnisreich Konstanze Kriese, Vorstandsreferentin der Bundestagfraktion der Linken.

Auch für Kahrs sind die Piraten - am ausgeprägtesten in Berlin - der parlamentarische Arm jener Schicht, die ein Normalarbeitsverhältnis, ob in der Industrie oder im öffentlichen Sektor, nie kennengelernt hat. Die LINKE und die Gewerkschaften erreichten dieses Milieu nicht, werden von ihm als strukturkonservativ angesehen und haben für dieses auch wenig bis keinen Gebrauchswert. Kahrs ist überzeugt, die Piraten verkörpern die Sehnsucht nach einer neuen Konstitution von Sozialstaatlichkeit. Für die Einhegung des Neoliberalismus würden, so wiederum Fülberth, die Piraten vielleicht noch gebraucht.

Als Quintessenz vieler Beiträge dieses Bandes kann festgehalten werden, dass keines der von den Piraten aufgeworfenen Themen erledigt ist und die Wissensarbeiter womöglich zu einer strategisch wichtigen Gruppe innerhalb des Kapitalismus werden, ja vielleicht schon sind. Falls die Piraten ihr Programm vertiefen und ausweiten und ihre Partei professionalisieren, ist weiterhin mit ihnen zu rechnen. Jüngste Forschungserkenntnisse zeigen, dass in den neuen Protestbewegungen (Stichwort: Wutbürger) Angehörige naturwissenschaftlicher Berufe, wie sie bei den Piraten überproportional vertreten sind, eine weit stärkere Rolle spielen als in den sozialen Bewegungen der 1980er Jahre, die eher vom linken Lehrer und der frauenbewegten Sozialarbeiterin getragen wurden. Fazit: Es deutet vieles darauf hin, dass die Piraten doch noch nicht gekentert sind.

Horst Kahrs (Hg.): Piratenzauber. Über eine Gesellschaft, die Freibeuter hervorbringt. PapyRossa Verlag, Köln. 196 S., br., 13,90 €.

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