»Wir haben so sehr geglaubt!«

Swetlana Alexijewitsch: Stimmen zur sowjetischen Geschichte

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 9 Min.

Sie sei eine »Menschenforscherin« und keine Historikerin, sagt sie, obwohl sie auf ihre Weise Zeitbilder schafft. Swetlana Alexijewitsch schreibt auf, was andere ihr erzählen. Das hat sie seit ihrem ersten Buch »Der Krieg hat kein weibliches Gesicht« über Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg schon mehrfach mit Erfolg praktiziert. Sie fragte Veteranen des sowjetischen Afghanistan-Krieges, Betroffene der Katastrophe von Tschernobyl. Und jetzt der ganz große Wurf: »Secondhand-Zeit« - Nachdenken über den Zusammenbruch der UdSSR. Wobei das Nachdenken dem Leser überlassen ist. Die Autorin liefert »nur« den Stoff dafür und gibt kaum kund, was ihr selbst zu den Gesprächen durch den Kopf ging.

Manchmal bekennt sie, zusammen mit einer Gesprächspartnerin geweint zu haben. Bei ihr brechen Menschen nicht selten in Tränen aus - weil ihnen wieder deutlich vor Augen steht, was sie eigentlich hatten vergessen wollen. Oder einfach, weil sich endlich jemand für sie interessierte, sie als Person wahrnahm. Mit unzähligen Leuten hat Swetlana Alexijewitsch gesprochen und dabei ihr Empathie-Talent unter Beweis gestellt. Aus ihren Aufzeichnungen formte sie dann einen »Chor«, aus dem sie, nach ihrem Inszenierungsplan, »Solisten« hervortreten ließ. Wenn es authentische Stimmen sind, können die Personen sich wahrscheinlich nur selbst im Buch identifizieren, denn die Autorin hat sie mehr oder weniger anonymisiert. Was wie eine journalistische Arbeit erscheinen mag, ist ein künstlerisches Werk, in dem jeder Anschein von Glätte vermieden ist, das »sperrig« wirken soll, wie es die Realität ja auch ist.

Die belorussische Autorin, Jahrgang 1948, hat vieles von dem Gehörten doch selbst erlebt: In einer Zeit, als alles erstarrt schien, öffneten Bücher geistige Räume. Underground-Dichtung, unter der Hand verbreitete Manuskripte - heimlich vervielfältigt wurde, was von sowjetischen Verlagen nicht zu haben war. Hitzige »Küchengespräche« über Literatur und Leben, das Glück, sich über den gewöhnlichen Alltag zu erheben, sich selbst als bedeutsam zu erfahren.

Lebensträume schienen wahr zu werden, als Michail Gorbatschow von »Perestroika« sprach. Den Umbau der sowjetischen Gesellschaft hatte man doch selbst schon längst in Gedanken durchgespielt. Man wusste genau, was nicht mehr so bleiben durfte. Und nun sollte es sich ändern, die Staatsmacht bürgte dafür. Hatte man es nicht selbst mit herbeigeführt? Sozialismus mit menschlichem Antlitz - aber statt dessen bald schon Enttäuschung.

»Wir haben so sehr geglaubt!«, das sagt eine Bäuerin aus einem belorussischen Dorf. »Geglaubt, dass eines Tages ein gutes Leben kommen würde. Warte, hab Geduld ... Das ganze Leben in Kasernen, in Wohnheimen, in Baracken.« Das hielten sie aus, weil sie in der Ferne eine lichte Zukunft vermuteten. »Und jetzt ... ach! Also ... also ... Alles umsonst ... Wir haben uns vergebens gequält ...« Bitternis, Kränkung flammen immer wieder auf. »Die Menschen möchten einfach nur leben, ohne große Idee«, sagt die Autorin im Vorwort und hat doch erfahren, dass der Mensch Sinn braucht, was auch durch ein einigermaßen komfortables Privatleben nicht ganz zu ersetzen ist. Und wer arm ist, muss sich ganz verloren fühlen, während andere, die er kennt, »es geschafft« haben.

Unzählige Gespräche hat Swetlana Alexijewitsch geführt und nur ganz, ganz selten zu hören bekommen, man hätte Freude, beim Kampf um Bereicherung mitzumachen. Wenn jemand das sagt, hat er auch bloß wieder ein Unglück verdeckt, Einsamkeit, Scham, weil man eigentlich so nicht erzogen war, weil andere einem fremd werden und es nicht glücklich macht, einen Sack voll Rubel (oder Dollars) unterm Bett zu verstecken. »Sie dachten, sie würden bald leben wie in Amerika oder in Deutschland, stattdessen leben wir nun wie in Kolumbien.« Das sagt eine Frau, die früher dritter Sekretär in einem Kreisparteikomitee war. Aber auch eine andere, die in einem Straflager in Kasachstan und später in einem Kinderheim aufgewachsen ist, die - von fern gesehen - eigentlich allen Grund hatte, den Sowjetstaat zu hassen, kann sich mit dem, was danach kam, nicht anfreunden: »Überall nur Ellbogen, Ellbogen, Ellbogen ... Das ist nicht meins. Nicht meins!«

Ursprüngliche Akkumulation. Wilder Frühkapitalismus. Keiner der Befragten - und womöglich auch die Autorin nicht - kann ganz durchschauen, wieso das plötzlich so kam. Wieso zum Beispiel ist in kurzer Zeit eine solche Wirtschaftskrise entstanden, dass Lebensmittelkarten ausgegeben werden mussten - ein Kilo Fleisch und 200 Gramm Butter auf Zuteilung im Monat! Dass Löhne vielfach nicht mehr in Geld, sondern in Naturalien ausgezahlt wurden, hierzulande hat man es kaum mitbekommen. An die beiden Moskauer Putschversuche 1991 und 1993, die hier aus persönlichen Sichten beschrieben werden, kann unsereins sich noch vage erinnern. Auch von den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Armeniern und Aserbaidshanern haben wir gehört, und erst jetzt ging wieder durch die Presse, dass Migranten aus Tadshikistan in Moskau billige Arbeitskräfte sind, aber von der Bevölkerung kaum geduldet werden. Wie grausam diese Konflikte jedoch wirklich sind - bis heute - hat man vorher noch nie so gelesen wie in diesem Buch.

Schreckliche Einzelheiten. Haarsträubende Geschichten. Nach der Lektüre vermengen sie sich in eins - ob es Erlebnisse im Lager, im Partisanenkampf waren oder aus dem Tschetschenienkrieg. Unmenschlichkeit, so konkret geschildert, dass man es glauben muss und es trotzdem unvorstellbar bleibt. Ja, der Stalinismus, wir wissen es, die Mechanismen des Krieges - davon hat man sich inzwischen einen Begriff gemacht. Aber wie geschieht es, dass plötzlich Nachbarn aufeinander losgehen, mit Eisenstangen und Messern, dass sie vor kurzem freundlich miteinander waren und nun einer des anderen Kind vom Baum schießt. Dieses Buch lesend, merkt man, wie vieles man eben doch nicht ganz begreift. Und: welch unglaubliches Unverständnis hierzulande Russland gegenüber herrscht, weil man von der eigenen Befindlichkeit ausgeht, die als Standard erscheint, den andere erreichen müssen. Wie einfältig es ist, von fern allgemein über Freiheit und Demokratie zu palavern, an denen es dort mangeln würde. Dringlicher wäre erst einmal, dass der Staat den einzelnen Menschen unter Schutz nähme gegen Willkür und gegen die allerschlimmste wirtschaftliche Not. Schutz des Menschenlebens, das wäre schon viel. Schutz des Gemeinwesens vor Gewalt und Korruption, vor Steuerhinterziehung, vor den Auswüchsen hemmungsloser Bereicherung einiger Weniger auf Kosten der Vielen. Rechtsstaatlichkeit - aber wie, wenn das Recht des Stärkeren dominiert?

Demonstrationen für oder gegen? Für den einzelnen sind sie eine Möglichkeit, sich Luft zu verschaffen, sich nicht ganz und gar als Opfer zu fühlen. Aber das gewünschte Leben ist durch Sprechchöre nicht herbeizurufen, das haben die Ereignisse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gezeigt. Hoffnung? Ja, es könnte wohl besser werden, wenn sich staatliche Ordnung und Wirtschaft stabilisieren, wenn es nicht bloß Arme und Reiche gibt, sondern sich eine immer stärkere Mittelschicht bildet, die eine Demokratie ja erst stabil macht. Aber, leider, das geht alles nicht so schnell, wie es sich der Mensch mit seinem endlichen Leben wünscht. Weil dafür viel mehr notwendig ist, als es vom satten Westen aus scheint - und wie es sich die stolze russische Intelligenzija einst vorgestellt hat.

Die Demütigung der Intelligenzija - das wäre ein Buch für sich. Die Fähigkeit zu analysieren, die Leidenschaft vorauszudenken, der Mut, sich gegen staatliche Autoritäten zu stellen, waren doch hauptsächlich mit der eigenen Lebenssituation verbunden. Materiell einigermaßen gesichert, wünschte man sich mehr Freiraum hinzu. Man glaubte an die Macht der Wahrheit, an die Macht des Wortes. Der Stalinismus erschien wie eine bösartige Geschwulst. Würde man sie aus der Gesellschaft herausschälen, käme es zur Gesundung. Aber leider, Operation misslungen, Patient tot.

Die oppositionelle Intelligenzija - sie ahnte nicht, wie sie mit dem Regime verwachsen war. Die Literaten, die Künstler sahen sich als Gewissen der Nation und wurden auch so angesehen. Dichter füllten Fußballstadien. Heute, in einem nicht mehr ideologisch, sondern durch Ökonomie (samt ihrer Verwerfungen) fundierten System, müssen sie zusehen, wie sie überhaupt ihren Unterhalt bestreiten. »Die Intelligenzija verarmte entsetzlich«, stellt Swetlana Alexijewitsch fest und macht sich keine Illusionen, was ihre heimatliche Leserschaft betrifft, die vor Jahrzehnten viel größer gewesen wäre.

Das können Ehrungen im Westen nicht kompensieren. Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird die Autorin als Ermutigung entgegennehmen. Dem Verkauf ihres Buches hierzulande wird er nützlich sein. Sie kann mit der Aussage schockieren, dass es in ihrer Heimat eine Sehnsucht nach Rückkehr in die Sowjetunion gibt. »Die Hälfte der jungen Menschen zwischen neunzehn und dreißig hält Stalin für einen großartigen Politiker«, schreibt sie im Buch. Das eignet sich zur medialen Skandalisierung. Mit der Gestaltung des Buchumschlags hat Hanser auch darauf abgehoben. Mit Russland verbinden sich alte Ängste. Die Denkmuster des Kalten Krieges sind noch virulent.

Mit Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien ist die Ostgrenze der EU markiert. Die Ukraine ist im Wartestand, und Russland bleibt sowieso draußen. Vor wem soll denn das Raketenabwehrsystem der NATO schützen, das seine Kommandozentrale im deutschen Ramstein haben wird? Moskau wirbt seit Jahren um eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur von Vancouver bis Wladiwostok - und beißt damit auf Granit. Auch wenn der Verteidigungsetat der USA um ein Vielfaches höher ist (laut »Spiegel« ist das Pentagon für 39 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben verantwortlich), in Russland hat es vor diesem Hintergrund in den letzten Jahren eine Steigerung gegeben, die sich im zivilen Leben gerade außerhalb der großen Städte empfindlich bemerkbar macht. Wenn russische Jugendliche heute mit Stalin-Shirts rumlaufen, meinen sie nicht Zwangsarbeitslager, sondern fordern das Selbstbewusstsein eines mächtigen Landes ein. Da kann man nur hoffen, dass sie nicht irgendwann einen Präsidenten wählen, vor dem es einem graust.

Viele russische Intellektelle graust es jetzt schon. So sie nicht schon im Westen wohnen, nutzen sie dortige Medien, um Anklage zu erheben. Gegen die Zustände zu Hause, weil diese Zustände sind, wie sie nicht sein dürften. Man stimmt ihnen zu, gibt ihnen gute Worte und manchmal einen Preis, das alte Muster »Druck von außen« (wie bei Sacharow, Solshenizyn u.a.) wird aus der Schublade geholt. Aber damals funktionierte es doch so wenig wie heute. Die UdSSR ging zugrunde, weil sie schon lange wirtschaftlich auf tönernen Füßen stand und sich totgerüstet hatte, weil sie im Kalten Krieg unterlegen war. Das war wohl mit einem Mangel an Demokratie und Freiheit verbunden, wäre aber durch mehr Demokratie und Freiheit nicht aufzuhalten gewesen.

Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. C. Hanser Verlag. 592 S., geb., 27,90 €.

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