Lange Zeit kein einziges Wort

Im Gespräch mit den Kindern von Ruth Werner

  • Lesedauer: 10 Min.
»Sonjas Rapport«, nun in vollständiger Fassung, offeriert dem Leser manches Bedenkenswerte. Sonjas* Kinder befragen im Nachhinein ihre Mutter, die Väter und sich selbst. Mancher auch bisher unveröffentlichte Fakt wird aus der Sicht von Michael Hamburger, Janina Blankenfeld und Peter Beurton offen gelegt oder kommentiert. Der Journalist Rudolf Hempel hat dieses Gespräch mit den Kindern im Januar 2006 geführt und notiert. *Der Umstand, dass Ruth Werner auf Grund ihres Lebens- und Berufsweges unter diversen Namen bekannt wurde, mag auch beim aufmerksamen Leser eine gewisse Verwirrung hervorrufen. Zur Erklärung: Ursula, geborene Kuczynski, verheiratete Hamburger, abermals verheiratete Beurton, erhielt als Kundschafterin den Decknamen Sonja und gab sich, als sie in der DDR eine zweite Laufbahn als Schriftstellerin begann, den Autorennamen Ruth Werner.
Hempel: So sehr Ruth Werner in ihrer »Sonja-Zeit« auch auf sich selbst gestellt war, die Familie spielte für sie doch eine dominierende Rolle. Welchen Einfluss hatte sie auf ihre Kinder, wie haben diese sie wahrgenommen?
Michael H.:
Am meisten hat mich die Persönlichkeit meiner Mutter geprägt: Sie war ein durchaus unbürgerlicher Mensch. Frei, naturliebend, unprätentiös, lebhaft und spontan. Sie hasste alles Eitle, Artifizielle. Besonders hat uns der Humor verbunden.
Janina B.: Unsere Mutter war warmherzig und aufgeschlossen. Und bescheiden. Auch dann, als sie öffentliche Anerkennung genoss.
Michael H.: Wir drei Kinder sind, wie unterschiedlich auch geartet, allergisch gegen alles Spießbürgerliche. Das haben wir von der Mutter mitbekommen.
Peter B.: Das macht mich nachdenklich. Denn andererseits hatte sie doch einen Ehrgeiz, dass aus allen drei Kindern ja etwas Ordentliches werden sollte, manchmal so, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Das bringt wohl eine gewisse Bürgerlichkeit zum Ausdruck.
Also, sie hasste Privilegien und machte fast nie Gebrauch davon. Aber es gab mal diese Episode. Meine Mutter ging zum Schuldirektor und fragte: Könnte ihr Enkelkind nicht doch zur Oberschule zugelassen werden, obwohl die Leistungen nicht so ganz den Anforderungen entsprachen. Damals war »Sonjas Rapport« allerdings noch nicht erschienen.Da sah der Schul-direktor sie an: »Genossin Beurton, ich habe mich für meinen Sohn auch nicht verwandt.« Damit war das Gespräch beendet.
Das eigentlich Gute an dieser Geschichte ist, dass ich sie weiß. Von meiner Mutter. Sie hat sie mir erzählt, weil sie irgendwo ja ein schlechtes Gewissen hatte.

»Sonjas Rapport«, erschienen 1977, war eines der ersten Bücher, das die Kundschaftertätigkeit für die Sowjetunion dokumentierte. Es war sicher nicht einfach, es herauszubringen?
Michael H.:
Das Buch hat eine lange Vorgeschichte. Markus Wolf, ehemals Leiter der Auslandsaufklärung, erzählte uns davon. Er habe unsere Mutter etwa Mitte der 60er Jahre kennen gelernt. Er war daran interessiert, ihre Erfahrungen für seine Offiziere nutzbar zu machen. Sie sprach dann ein paar Mal mit diesen über ihre Tätigkeit, und Wolf ermunterte sie, die Geschichten aufzuschreiben. Jahre später überreichte sie ihm einen Text, nur für den internen Gebrauch. Doch Wolf fand es viel zu schade, dieses hochspannende Manuskript nur in den Panzerschrank einzuschließen. Er regte eine Veröffentlichung an. Es verflossen Jahre, bevor die Genehmigung zur Veröffentlichung - mit einigen Strichen - vorlag. Man benötigte ja auch unbedingt das Jawort aus Moskau, eine besonders schwierige Hürde.

Wie ging es weiter?
Peter B.:
Von meinem Vater weiß ich, dass das Buch ursprünglich zum 20. Jahrestag des am 8. Februar 1950 gebildeten Ministeriums für Staatssicherheit erscheinen sollte. Meine Mutter hat dann einen entsprechenden Brief an den Minister geschrieben: Sehr geehrter Genosse Mielke, so und so. Das war wohl bereits nach der Vorabsprache mit Markus Wolf. Der Brief blieb aber vier Jahre ohne Antwort liegen. Das hat sie dann doch gewurmt. Aber sie konnte ja nicht sagen, Genosse Minister, Sie haben da was vergessen.
Schließlich haben Hans Schaul, alter Spanienkämpfer, langjähriger Chefredakteur der »Einheit«, und Jürgen Kuczynski (ihr Bruder - d.R.) ihr den Weg zu Honecker geebnet. Und eines Tages wurde sie zu ihm bestellt. Meine Mutter kam ins Vorzimmer vom Generalsekretär, und dessen Büroleiter sagte zu ihr: »Deine Sache steht nicht schlecht.« Und dann ging sie hinein, und Honecker begrüßte sie. Das Manuskript offenbarte auch ihre Arbeit mit Klaus Fuchs und andere brisante Dinge. Deshalb hatte sie sich verschiedene Argumente zurechtgelegt. Honecker sagte aber ohne lange Vorrede, er habe die Hälfte gelesen, und das Buch werde erscheinen. Sie war sprachlos; gerade das hatte sie nicht erwartet - und die brisantesten Fakten waren in der zweiten Hälfte enthalten. Ihre Sprachlosigkeit wiederum irritierte ihn, und so schob er nach: Das ist Politbürobeschluss. Als sie ihn auf das Problem hingewiesen hatte, sagte er, ich muss sehen, wie ich die Zeit zum Lesen finde; du bekommst von mir Bescheid.

Kann man davon ausgehen, dass ein solcher Beschluss wirklich vorlag?
Peter B.:
Honecker war das Politbüro. Eine Woche später kam dann - er hatte die zweite Hälfte wahrscheinlich lesen lassen - der Bescheid. Also das Buch erscheint. Im Wesentlichen sollten aber zwei Passagen herausgenommen werden.
Peter B.: Im Herbst 1976 lag sie in Buch in der Klinik beim Herz-spezialisten Professor Baumann. Ich war von meinem NVA-Reservedienst in Prenzlau auf »Sonderurlaub« zu ihr gekommen. In gelöster Stimmung erzählte sie die Geschichte mit Honecker und fügte hinzu, dass zwei Dinge raus müssten. Als ich kühn fragte, welche beiden das wären, sagte sie mit strenger Stimme: »Hab ich doch gewusst, dass du fragst, Peterchen, das geht dich nichts an.«
Janina B.: Vermutlich ging es um die Stalinzeit. Über die hat unsere Mutter ja in der englischen Ausgabe ausführlicher geschrieben. Und eben um Fuchs.
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Sonja - mit Michael, Peter und Nina in England
Stichwort Klaus Fuchs. Wir wissen ja nun, dass die Verbindung zwischen Ihrer Mutter und ihm 1942 in England auf Vermittlung von Jürgen Kuczynski zustande kam. Beide trafen sich zwei Jahre lang in Abständen. Hatten die Kinder nie auch nur den Ansatz eines Verdachtes? Was sagte sie Ihnen, wohin sie mit dem Fahrrad fuhr, was sie machte?
Janina B.:
Zu den Großeltern nach London, hat sie mir gesagt. Oder einkaufen. Oder was auch immer.
Michael H.: Sie brauchte keine Ausreden zu erfinden. Für uns bedeutete es nichts Ungewöhnliches, wenn sie einen halben oder ganzen Tag wegfuhr. Wir waren ganz froh, eine Weile ohne Aufsicht zu sein.
Sie war Mitglied der eine Zeitlang verbotenen englischen Kommunistischen Partei. Es gab heimliche Treffs in unserm Haus. Dass sie einen Radiosender betrieb, davon ahnte ich nichts. Es gab da eine kleine Episode, deren Ironie mir erst viel später aufging: Ich bastelte als Junge selber Radiogeräte, damals mit diesen riesigen Spulen und Röhren wie Glühbirnen; ich zeigte ihr dann stolz das fertige Gerät. Zu meiner Überraschung hatte sie einiges zu bemängeln, die Lötstellen seien nicht gut genug und dergleichen. Ich wandte mich missvergnügt ab und dachte bei mir: Was versteht sie denn davon?

Noch mal zurück zur Entstehungsgeschichte von »Sonjas Rapport«. Gab sie ihren Kindern vor der Drucklegung das Manuskript zu lesen?
Janina B.:
Sie gab mir das Manuskript ungefähr ein Jahr vor Erscheinen des Buches. Ich habe es in zwei Nächten gelesen, es hat mich tief berührt: die drei Kinder unter diesen Bedingungen! Und besonders auch, mich haben zu wollen. Aber dass es uns gab, hat ihr gefährliches Leben, so merkwürdig das vielleicht klingt, irgendwie leichter gemacht. - Ich habe sie spontan umarmt.
Dass sie illegal arbeitete, ahnten wir mit den Jahren. Aber ich zum Beispiel dachte immer, sie hat nur Flugblätter verteilt. Und ich wusste auch nichts über meinen Vater, bis ich das Manuskript las.
Peter B.: Meine Mutter war ein Mensch, der in allen Dingen, die ihre illegale Tätigkeit betrafen, geradezu obzessiv verschwiegen war. Uns gegenüber verlor sie lange Zeit kein einziges Wort, auch nicht indirekt.
Michael H.: Sie hat selten etwas von sich expressis verbis mitgeteilt. Nachdem ich das Manuskript - mit großer Anteilnahme - gelesen hatte, galt ich als informiert.

Was heißt es für ein Kind, mit einer Kundschafterin zusammenzuleben?
Michael H.:
Für meine Kindheit möchte ich das am Beispiel der Sprache erläutern. In China lernte ich zu Hause Deutsch, bei meiner Ammah und beim Spielen mit Straßenkindern Chinesisch. Mit drei Jahren erfolgte eine Trennung von meiner Mutter eigens zu dem Zweck, dass ich nicht Russisch lerne. In Polen hatte ich bei den Jugendbanden einen schweren Stand, weil ich fremd und bürgerlich war. Während ich zu Hause Deutsch lesen und schreiben lernte, schnappte ich deren polnischen Gassenjargon auf; als ich gerade begann, zur Bande zu zählen, siedelten wir in die Schweiz über. Ich besuchte in Caux eine francophone Schule, die Deutsch als Zweitsprache lehrte, später eine englische Internatsschule in Glion mit Französisch als Zweitfach. Mit zehn kam ich nach England. Bis ich schließlich mit zwanzig in die DDR kam. Da ich mich in England geweigert hatte, Deutsch zu sprechen, Deutsch war ja der Feind, brachte ich das Vokabular eines Zehnjährigen mit.
Deutschland ist das Zuhause, das ich mir letztendlich ausgesucht habe, vor mehr als 50 Jahren. Einen Hauch Fremdheit spüre ich aber immer noch. War man für längere Zeit Emigrant, bleibt man es ein bisschen sein Leben lang.
Janina B.: Bei mir war dieses Gefühl weniger ausgeprägt. Ich bin ja in Polen geboren, kam noch als Kind in die Schweiz, dann nach England. Von dort ging es 1950, ich war 14 Jahre, nach Deutschland, ohne auch nur ein Wort Deutsch zu können.
Bis unsere Mutter eine Wohnung für uns hatte, musste ich, zum wievielten Mal eigentlich, in ein Kinderheim. Das war schlimm. Sonntags besuchte sie Peter und mich. Und jedes Mal beim Abschied sehnte ich mich so sehr nach dem nächsten Wiedersehen mit ihr.
Peter B.: Sie hat sich sehr um uns gekümmert, aber doch mit Problemen, die sich aus der Familiengeschichte ergaben, allein gelassen.

Als Ihre Mutter 1950 in die DDR kam, galt sie als Westemigrantin. Das war im Übrigen auch die Zeit der Schauprozesse in Bulgarien, Ungarn und der Tschechoslowakei. Sie berichtet in »Sonjas Rapport« von einer Parteistrafe, die sie ausgerechnet aus »mangelnder Wachsamkeit« bekam. Wie ging sie damit um?
Peter B.:
Sie kam nicht völlig namenlos hierher. Und es gab immer eine Vertrauensperson. Das war Willi Kling. Er hatte lange im Konzentrationslager gesessen, jetzt war er Kaderchef im ZK, einer der Leute, die bei Ulbricht ein- und ausgingen. Kling war der Mann für alle Fälle.
So ein »Fall« trat dann in den frühen 50er Jahren ein. Vor dem Hintergrund jener Schauprozesse, die dann in der DDR glücklicherweise nicht stattfanden, gab es verhörartige Kaderüberprüfungen durch die Partei. Jeder Genosse musste einen Bericht anfertigen, in dem er beispielsweise über seine illegale Arbeit während der Naziherrschaft für jedes Jahr detailliert Auskunft gab. Da waren nun bei unserer Mutter 20 Jahre weiße Flecken, und sie weigerte sich konstant, diese auszufüllen. Das brachte sie in Schwulitäten. Sie wandte sich also an Willi Kling. Nach ein paar Tagen kam er auf sie zu und sagte: »Hör mal, ich habe für dich einen Termin bei Hermann Matern vereinbart.« Matern war damals im Politbüro und Chef der Zentralen Parteikontrollkommission, ZPKK. So ging sie zu ihm, und er fragte: Na, Mädchen, was hast du denn, erzähl mal? Und da fing sie an, ihre Sache zu erzählen. Nach anderthalb Sätzen winkte er ab und sagte, ist gut. Das war das Ende dieser Geschichte.

Fotos und gekürztes Interview aus: »Sonjas Rapport«, erste vollständige Ausgabe, Verlag neues leben, 371 S., geb., 19.90 EUR
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