Lauwarm - nicht heiß, nicht kalt

Ostdeutsche Frauen erzählen ihre Geschichte(n)

  • Petra Drauschke
  • Lesedauer: 3 Min.
Elf Porträts ostdeutscher Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Sie liegen quer zu allen Klischees »der ostdeutschen Frau«. Das Besondere dieses Buches liegt in dem »dazwischen«. Hier werden Blicke und Selbstdeutungen auf das Vergangene wie das Gegenwärtige aus den Lebengeschichten der Frauen erklärbar. Fast alle porträtierten Frauen haben dramatische Brüche in ihrem Leben gelebt, vor und nach der Wende. Einige der Frauen hatten Visionen, die sich an den realen politischen Verhältnissen in der DDR gerieben haben.
So nennt die Mitbegründerin der SPD in Güstrow, Heidemarie Beyer, ihr Leben in der DDR lauwarm. Es war nicht heiß und nicht kalt. Zum Ende der DDR hatte sie das Gefühl zu ersticken. Während sie in der DDR als Gemeindehelferin engagiert mit Behinderten arbeitete, sitzt sie nach der Wende plötzlich im Landtag und arbeitet im Finanzausschuss. Da hat sie keine Scheu, denn rechnen kann sie, haushalten musste sie immer.
Einen ähnlich starken Entwicklungsschub nach der Wende erlebt Ingrid Miethe, heute Professorin der Erziehungswissenschaften. Bei ihr haperte es nach Meinung ihres Lehrers an der Einsicht in die Notwendigkeit, die eigenen Interessen unter die Linie der Partei zu stellen. Engagiert in kirchlicher Jugendarbeit, erlebt sie verschiedene Facetten von DDR-Alltag: Facharbeitertätigkeit, die sie nicht ausfüllt, Kellnern, Gefängnisaufenthalt in Ungarn wegen vermuteter Republikflucht. Ingrid Miethe erkennt wirtschaftliche Engpässe in der DDR und näht Babytragetaschen, die sie reißend los wird, stellt dafür sogar zwei Frauen ein. Damit ist zur Wende Schluss, denn ihre Taschen gibt es nun in jedem Supermarkt. Stattdessen studiert sie mit zwei kleinen Kindern Erziehungswissenschaften, promoviert und gehört heute zu den wenigen Ostprofessorinnen in den alten Bundesländern. Als besonders paradox empfindet sie die Tatsache, dass sie, die die Maueröffnung als das Schönste im Leben empfand, sich nun mit DDR-Geschichte befasst und zwar nicht nur in einem verurteilenden Sinne. Zu einem Großteil sei es ihre Reaktion auf das Bild der DDR, das nach 1989 in den Medien gezeichnet wurde. Sie sagt, in gewisser Weise wurde sie erst im Nachhinein zum DDR-Bürger.
Anders geht es Regina Franz aus der Oberlausitz. Sie machte zu DDR-Zeiten Karriere in der Leitung eines Strafvollzugs, wurde mit der Wende arbeitslos und engagiert sich ehrenamtlich in verschiedenen Projekten des zweiten Arbeitsmarktes und erzählt von ihrem tagtäglichen Mühen, dem Leben gute Seiten abzugewinnen. Die Unternehmerinnen Petra Fähnrich, die einen Weinhandlung führt, und Ursula Mattecka, Inhaberin mehrerer Buchläden, entwickeln eine fast durch die Zeilen spürbare unternehmerische Energie, die sie in stillen Momenten auch manchmal hinterfragen. Brigitte Gentsch-Kretschmar, die ehemalige Chemiefacharbeiterin, fragt in ihrer berührenden Lebenserzählung nach dem Lebenssinn außerhalb ihrer jahrzehntelangen Arbeit, die für sie vor allem den sozialen Zusammenhalt mit ihren Kolleginnen bedeutete. Marie Krüger, die jüngste unter den elf Frauen, hat höchst lebendige Kindheitserinnerungen an das Leben in der DDR, ein Land, das sie in seinen guten wie negativen Seiten gleichwohl als für sich verlorenes Land bezeichnet.
Es ist ein ehrliches Buch und sollte von all jenen neugierigen Frauen und Männern in Ost wie West gelesen werden, die an einem differenzierten Bild ostdeutschen Lebens interessiert sind. Für diese gut lesbaren, kurzweiligen Porträts sei Ulrike Hänsch und Eva Schäfer sowie der wunderbaren Fotografin Barbara Dietl, aber auch dem Ulrike Helmer Verlag herzlich gedankt.

Ulrike Hänsch: »Jetzt ist eine andere Zeit.« Ostdeutsche Frauen erzählen. Fotos von Barbara Dietl. Ulrike Helmer Verlag, Berlin. 200 S., br., 19,90 EUR.
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