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  • Politik
  • Das Foto vom »fröhlichen Grenzdurchbruch« 1939

Als Gauleiter Forster um seinen Sieg gebracht wurde

  • Lesedauer: 5 Min.

Von Winfried Höhn

Sie gehört zu den berühmtesten Bildern unseres Jahrhunderts - die Aufnahme von Männern in Uniform, die am 1 September 1939 einen Schlagbaum nieder reißen. In den Medien wie auch in der einschlägigen Literatur wird sie stets mit falschen Bildtexten versehen: Wehr machtsoldaten überschreiten die Grenze nach Polen bzw. polnische Grenzer begrüßen den deutschen Einmarsch. Unser Autor, Mitglied der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltknegsfor schung, hat recherchiert und korrigiert eine Legende.

Nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages hatte Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg auch Danzig abzutreten. Aus der Stadt und den umliegenden Kreisen wurde 1920 die «Freie Stadt Danzig» gebildet. Rund 95 Prozent der Bevölkerung waren deutscher Herkunft. Die Stadt grenzte im Osten an Ostpreußen und im Westen an den polnischen Korridor. Der «Freistaat» stand unter dem Protektorat des Völkerbundes und wurde außenpolitisch von Polen ver treten. Nachdem jedoch Albert Forster, bereits seit Anfang der 20er Jahre in der NSDAP mit seiner Strategie der «schleichenden Machtergreifung» Erfolg hatte und bei den Wahlen im Mai 1933 die absolute Mehrheit gewann, entstand im Freistaat eine «nationalsozialistische» Diktatur, die sich offen und ungeniert nach Hitlerdeutschland ausrichtete.

Im Frühjahr 1939 wurde in Danzig zum «Anschluss an das Reich» aufgerüstet. Mit Unterstützung der Wehrmacht wurden zwei Landespolizeiregimenter, die SS- Heimwehr, eine Grenzschutzformation (der verstärkte Grenzaufsichtsdienst, VGAD) und weitere paramilitärische Einheiten, trotz internationaler und polnischer Proteste, aufgestellt. Diese Truppen unterstanden formal der Regierung der laut Versailler Vertrag «entmilitarisierten Freien Stadt Danzig». De facto jedoch waren sie Bestandteil der Wehrmacht und unter den Befehl des als «Polizeiberater» von der Wehrmacht abkommandierten Generalmajors Eberhardt gestellt. Bekanntlich sollte der deutsch-faschistische Überfall bereits vor dem 1. September 1939 stattfinden. Am 25. August gab Hitler den Angriffsbefehl für den Folgetag heraus. Danziger Einheiten rückten dementsprechend in Richtung polnischer Grenze aus. So auch zum Grenzzollamt an der Straße Danzig-Gdingen, an der wenige Tage später das bekannte, zu einem Negativ-Symbol avancierende Foto entstand. Es kam zu ersten Kampfhandlungen, bei denen die Danziger Truppe die ersten Toten und Verwundeten zu ver zeichnen hatte.

Sowohl die Danzig-deutsche als auch die polnische Seite spielten sogleich dieses blutige Vorspiel des Zweiten Weltkrieges herunter. Die Danzig-deutsche Seite wollte sich wegen des bereits angesetzten, doch dann von Berlin wieder zurückgenommenen Angriffs nicht blamieren. Der Vorfall konnte indes nicht stillschweigend über gangen werden. So ging die NS-Presse in die Offensive und informierte am 28. August im «Völkischen Beobachter» über den «Mord an dem SA-Mann Rusch» am 25. August. Die Meldung endet mit dem Satz: «Wie wir soeben erfahren, hat in der gleichen Nacht auf Danziger Gebiet polnisches Militär eine SS-Streife beschossen, wobei ein SS-Mann tödlich verletzt winde.» Bei dem tödlich verletzten SS-Mann handelte es sich in Wirklichkeit um den Angehörigen der Danziger Landespolizei Josef Wessel. Bilder über seine Beisetzung wurden am 31. August im «Völkischen Beobachter» veröffentlicht und mit der Unterschrift versehen: «Weinend stehen die Kinder am Grabe ihres von den Polen ermordeten Vaters...»

Die polnische Seite wiederum wollte einerseits den Danziger Truppen keinerlei Anlass zur Provokation geben sowie andererseits aus einer besseren Verteidigungsposition den von deutscher Seite erwarteten Angriff abwehren und zog ihre Grenzwachen daher in die vorbereiteten Stellungen zurück.

So rückten am frühen Morgen des 1. September 1939 das 1. Regiment der Danziger Landespolizei auf der Straße Danzig-Gdingen, in der Nähe Zoppots, ins polnische Gebiet ein, wobei nun das besagte Foto vom «fröhlichen Einmarsch» deutscher Soldaten nach Polen entstand. Die Aufnahme war ganz nach dem Geschmack des Gauleiters von Danzig, der sich acht Tage vor Kriegsausbruch zum «Staatsoberhaupt der Freien Stadt Danzig» hat ernennen lassen. Forster- «An jeder Stelle der Front, ob vor Zoppot oder ir gendwo anders, waren unsere Kameraden froher Stimmung und brannten darauf, den Polacken endlich einmal die Jacke vollhauen zu können.»

Doch dieser «Einmarsch» verlief anders, als es das Foto suggeriert und Forster es sich gewünscht hatte. Die Danziger Landespolizei stieß nach dem «fröhlichen» Zerbrechen des polnischen Schlagbaums auf erbitterten Widerstand. «Die Polen saßen in gut gewählten Stellungen, zum Teil in schwer durchdringbaren Wäldern. Die angreifenden Danziger Truppen gerieten bei allen Unternehmungen in das Feuer eines meist unsichtbaren Gegners.» Das musste sogar eine NS-Propagandaschrift zugeben. Die Danziger Truppen sind auf Danziger Gebiet zurückgeschlagen worden. Nach meinen Recherchen war dies der einzige Fall, dass polnische Truppen im September 1939 auf deutsches Gebiet vorgedrungen sind. Dass polnische Artillerie am 1. September sogar Zoppot beschoss, passte Forster über haupt nicht, der zuvor getönt hatte, kein Geschoss werde Danziger Boden treffen. Am 2. September eroberte die Danziger Truppe aber wieder die Danzig-polnische Grenzlinie, musste aber hier angesichts tapferen Widerstands bis zum 13. September ausharren. Erst danach gelang es ihr, in Polen einzufallen und Gdingen einzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt war die Wehrmacht bereits tief in Polen eingedrungen, stand am Stadtrand von War schau. Am 19 September hielt der «Führer» seinen Einzug in das «befreite und wiedervereinigte Danzig».

Die Bilder über den «fröhlichen Grenzbruch» passten nicht mehr in die Darstellungen über den «siegreichen Polenfeldzug» und wurden daher in der NS-Presse nicht gezeigt. Zur Symbolisierung des Kriegsausbruches tauchten sie in den 50er Jahren in der BRD und DDR fast gleichzeitig auf. Dass bis in unsere Tage hinein Journalisten, die sich als Historiker ausgeben, dieses Bild für ihre Mythologie benutzen und aus den Danziger Polizisten kurzerhand polnische Grenzer machen, die freudig den deutschen Einmarsch begrüßt hätten, ist wohl nicht nur auf Unkenntnis und Ignoranz zurückzuführen.

Nachbetrachtung: Das Ende des in der Folge zu einem Infanterieregiment mutierten Danziger Landespolizeiregiments schlug in Stalingrad. Die «zur Erinnerung an die Helden» im Juni 1943 in Danzig aufgestellte Panzergrenadier-Division «Feldherrenhalle» verteidigte vergeblich im März 1945 an der gleichen Stelle, an der fünfeinhalb Jahre zuvor das Bild aufgenommen worden war, den Zugang zur «Festung Danzig». Die letzten Reste dieser Einheit kapitulierten am 9 Mai 1945 auf der Halbinsel Heia und zogen am 11. Mai als Gefangene am Grenzzollamt auf der Straße von Gdingen nach Danzig.

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