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  • Politik
  • George Taboris »Jubiläum« an den Kammerspielen des DT

Die fremden Toten

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

George Tabori hat einmal gesagt, er sei eher etwas für die Katakomben als für die Kathedralen. Von Thomas Langhoff war bislang bekannt, dass er eher etwas für die Kathedralen ist. Tabori und Langhoff treffen sich auf einem jüdischen Friedhof. In den zur schwarzen Arena umfunktionierten Kammerspielen zündet Langhoff unter der hauseigenen Kathedrale einen Sprengsatz. Höchste Zeit! Man sagt es und spürt sofort die aufsteigende Melancholie. Langhoff hat ein Gespür fürs Melancholische. Tschechow, Ibsen, Strindberg - hier, wo die Sterne um so heller leuchten, weil sie bald untergehen, glänzt auch Langhoff.

George Tabori aber ist zu alt für derlei melancholische Stimmungen. Er liebt die grelle Absurdität, den Schrecken, der grimassiert. Mit Liebe zum Fragment, zum Witz, der, wie er sagt, immer schwarz sein muss. Tabori behandelt hochpolitische Gegenwartsstoffe surreal. Das irritiert, verwirrt. Diesem Immoralisten mit zutiefst moralischen Absichten gleiten Traum und Realität ineinander. Totentanzbilder sind Bußgebete mit anderen Mitteln: einer Ästhetik des Schreckens. Das so aberwitzig daherkommende Memento mori Taboris macht ihn hierzulande schwer spielbar. In »Jubiläum« kommen die Toten aus den Gräbern und er zählen uns ihre Geschichte. Tötungsgeschichten. Zu Anekdoten geronnen. So kann es nur ein Jude erzählen. Darf? Denn es ist ein Vorrecht der Opfer, sich mit grellem Humor gegen das Trauma des Massenmords zu wehren. Hier kreist schlaglichternd ein Albtraum, der die Utopie eines beglückten Aufwachens nie aufgibt.

Langhoff hat bereits Taboris »Mein Kampf« fürs Gorki-Theater inszeniert. Neun Spielzeiten lang stand es dort auf dem Plan. Er will mit Tabori weg vom reinen Sprechtheater, weiß, diesen Tabori bekommt man nur mit Spielwitz in den Griff. Oder auch gar nicht. In der Fassung von 1983 soll der Jüdische Friedhof betoniert und zu einem Spielplatz gemacht werden. Langhoff wählt einen aktuelleren Einstieg. Aus der hintersten Reihe wühlt sich ein Neonazi nach vorn, dessen (Selbst-)Hass überquillt und der nun jede Nacht den jüdischen Friedhof wie ein Fluch aus der Vergangenheit heimsucht, um Hakenkreuze und den Spruch »Jude verreke« an die Friedhofmauer zu sprühen. Mit »ck« belehrt Arnold (Otto Mellies) milde. Mellies verkörpert das am unmittelbarsten, was einmal C. Bernd Sucher über Tabori schrieb: »Sein Schaffen ist ein Liebesangebot des Opfers an die Täter.« Schwer zu ertragen.

Der Totenreigen löst sich auf. Einzelne Biografien, Charaktere treten hervor. Tabori: »Wenn wir nicht über die Tabus und Klischees hinwegsehen und einander als Menschen und nicht als Abstraktion betrachten können, dann kann man genauso gut die Öfen wieder anzünden.« Zumutungen, die sich direkt an uns, den Zuschauer wenden.

Langhoff macht nun aber etwas sehr Seltsames. Er bleibt einfach auf halbem Wege zum absurden Spiel stehen. Wie ein Läufer, der sich nicht mehr sicher ist, ob die weiße Linie da vorn überhaupt das Ziel ist. Der Inszenierung bekommt diese Unentschiedenheit nicht. Vielleicht ist er auf den Brecht im Tabori gestoßen, die Versuchung zum Lehrstück. Weil Langhoff mitten im Absprung der Zweifel befällt, ob man das denn alles so machen kann mit den mörderisch kreisenden Judenwitzen, mit den abrupten Brüchen, mit den Missverständlichkeiten, darum springt er zu zaghaft und landet passagenweise da, wo weder er noch Tabori hinwollten: im Sentimentalen. Nein, die Toten kommen uns hier nicht wirklich nahe, sie bleiben unverstanden, wahren ihr Geheimnis. Vielleicht der stärkste Eindruck, der sich bei dieser Inszenierung einstellt.

George Tabori strich Thomas Langhoff hinterher väterlich über die Wange. Eine schöne Geste. Denn wer, wenn nicht dieser alte Magier wüsste, wie man um Millimeter alles verfehlen kann, und sei es den Rhythmus, das alles entscheidende Tempo.

Aber es gab auch Hoffnungsvolles mitten im Scheitern. Die junge Claudia Geisler etwa, die bereits in Andreas Kriegenburgs furios-schändlicher Hauptmannerrettung »Vor Sonnenaufgang« mit atemberaubend animalischer Sprödigkeit agierte. Hier ist sie die Spastikerin Mitzi, die sich tötete, weil sie statt des erträumten Liebesbriefes einen bekommt, in dem steht: »Schade, dass man dich vergessen hat.« Wie vergessen? Das Unverständnis zieht ihr durchs Gesicht wie eine rettende Bar riere vorm Abgrund. Aber dann begreift sie doch und - »Briefe soll man beantworten« - steckt ihren Kopf in eine Plastetüte. Die physische Ausdruckskraft von Claudia Geisler beeindruckt immer aufs Neue und ist doch etwas, was zur Tradition dieses Hauses deutlich im Widerspruch steht. Für diese Tradition in ihrer ganzen fatal schillernden Größe aber steht Dietrich Körner als Wumpf, der ewige Totengräber, der schon Ophelia begrub. Ein Zyniker, für den alle Menschen nur potenzielle Leichen sind. Körner sagt nur wenige Sätze, aber die schlagen direkt durch ins Rückenmark.

Zwei Spielauffassungen in einem Haus, in einem Stück. Langhoff selbst steht für diesen künstlerischen Widerspruch. Aber wer sagt denn, dass solche Widersprüche nicht höchst fruchtbar werden können?

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