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Draußen Plattenbauten, drinnen High-Tech

Die Jules-Verne-Schule in Berlin-Hellersdorf zählt zu Deutschlands führenden »Medienschulen«.

  • Lesedauer: 4 Min.

Von Tom Mustroph

Dort, wo die Plattenbauten anfangen, ist die »Jules-Verne-Schule«, sagt der Blumenhändler am ländlichen S-Bahnhof Kaulsdorf und zieht ein Gesicht, als wollte er sagen, dass da hinten das Ende der Welt beginne. Ganz so schlimm ist es nicht. Nach dem letzten Reihenhaus breitet sich eine kleine, hügelige Wiese aus. Daran schließen sich die ersten großen Wohnkästen des Berliner Stadtteils Hellersdorf an. Mittendrin ein langgezogener vierstöckiger Quader, eingefasst von zwei vorgelagerten kleineren Gebäuden. So unscheinbar sie aussieht, so berühmt ist die Jules-Verne-Schule. Als einzige ostdeutsche Schule wurde sie kürzlich von der Bertelsmann-Stiftung zur »Medienschule« gekürt, also zu einer der zwölf Bildungseinrichtungen, die nach Einschätzung der Juroren in Sachen Informationstechnologie eine Vorreiterrolle einnehmen.

Während heute gerade einmal 70 Prozent aller Berliner Schulen über ein Computerkabinett verfügen und ein noch kleinerer Prozentsatz überhaupt einen Zugang zum Internet besitzt, stellten bereits 1995 einige Angehörige der nach dem französischen Utopisten benannten Gesamtschule die erste Homepage ins Netz. »Viel schwarz war damals dabei. Die Gestaltung bunt und unruhig«, sagt Infor matiklehrer Martin Hannemann, dessen Engagement der ganze High-Tech-Schub zu verdanken ist. Lächelnd demonstriert der Mittvierziger, dass sich inzwischen eine gediegenere Ästhetik durchgesetzt hat. Hellgrau und mit einer Struktur versehen der Hintergrund; klar gegliedert die einzelnen Seiten, (http://jvs.cidsnet.de).

Über 60 Computer stehen heute in der Berliner Schule. Jeweils 18 Geräte sind auf zwei Computerkabinette verteilt. In vielen Klassenräumen befindet sich ein Rechner, auch im Literaturcafe. In der Bibliothek machen drei graue Kästen dem in Regalen verpackten Wissen Konkur renz. Alle Rechner sind miteinander ver netzt. Sieben Kilometer Kabel verlegten die Mechaniker der US-Halbleiterfirma »National Semiconductor« in der Schule - und zwar kostenlos. Sie stellten drei Ser ver und die Terminals des großen Computerkabinetts auf. Marktwert: 200000 Mark. Ungefähr noch einmal so viel hat der Sponsor in das vorzeigbare Pilotprojekt gesteckt, um auch die gesamte alte Technik ans Netzwerk anzuschließen. Das Netzwerkmodell mit Server und Terminals ist nach den Worten Hannemanns mittelfristig jedenfalls kostengünstiger und wartungsärmer als die gleiche Anzahl herkömmlicher Computer. Die müssten immer wieder nachgerüstet werden, Einnetz integriert. Dank des EU-Projekts Susie ist man seit 1997 in der Lage, Videokonferenzen mit Partnerschulen durchzuführen.

»Ja, mit einer Schule aus Kanada haben wir da Erfahrungen ausgetauscht«, sagt Kai Wichmann, als sei das die banalste Kommunikationsform, die man sich vor Hackers entspricht der Junge gleichwohl nicht. Eher scheint der aufgeschlossene Schüler der elften Klasse für eine Nebenrolle in der Soap-Oper »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« prädestiniert. Immerhin hat ihn die Informationstechnik soweit gepackt, dass er jetzt schon kleinere Aufträge für Firmen ausführt und später auf viele Kollegen; aber jetzt sei jeder Pädagoge stolz auf ihn.

Ein Netzwerk von über 60 Rechnern bedeutet noch nicht, dass jeder Einzelne auch genutzt wird. Zwei Geräte stehen im Lehrerzimmer - ausgeschaltet. Die Monitore erinnern an blinde Augenhöhlen - und könnten gut das Resultat einer Studie der Bertelsmann-Stiftung illustrieren. Derzufolge hat nur jeder fünfte Lehrer schon einmal im Internet gesurft und gar nur jeder Vierzehnte nutzt das Netz im Unterricht.

In der Jules-Verne-Schule ist das Ver hältnis besser. Von den 65 Lehrern haben über 40 die interne Weiterbildung in Sachen Computer besucht. Die meisten sind nun auch in der Lage, mit der neuen Technik umzugehen. Im Deutsch-Leistungskurs gibt zum Beispiel die Lehrerin Rosi Sommer mit ihren Schülerinnen gerade selbst verfasste Kurzgeschichten in den Computer ein. Später werden sie illustriert und ins Netz gestellt. Im Geschichtsunterricht ist die Klasse zweigeteilt. Die eine Hälfte recherchiert in ihren Büchern zur Weimarer Republik. Nils Welninski und ein paar andere Mitschüler gehen ins Internet. »Wir machen das öfter. Das ist schon ganz spannend. Und wir erfahren so auch mehr«.

In der Jules-Verne-Schule scheint der individuelle Umgang mit den neuen Medien mittlerweile eine Selbstverständlichkeit zu sein. In der Hellersdorfer Schule ist die Arbeit mit dem individualisierenden Internet schließlich auch keine Kulturrevolution, weil die Schulleitung schon seit der Wende auf Teamarbeit und Kleingruppen setzt. Der Lehrer sollte bereits im Konzept von 1990 nicht in erster Linie Belehrender, sondern Berater, Koordinator, Organisator und Inspirator sein. Das Internet ist demzufolge kein abschreckendes, neues Medium, sondern ein weiterer Baustein, um ein offenes pädagogisches Konzept zu verwirklichen.

Bei all dieser Offenheit stört eigentlich nur, dass die Server unter dem Betriebssystem des Monopolisten Microsoft laufen. »Die Installation von Windows NT war jedoch eine Bedingung des Sponsors National Semiconductor«, sagt Hannemann. Der Computerfreak arbeitet dennoch daran, das offene Betriebssystem Linux, das er auch vorher benutzte, wieder lauffähig zu machen, um alle alten Komponenten effektiver einsetzen zu können.

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