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  • Politik
  • Wera Herzberg inszenierte »Hamlet« in Potsdam

Amok der Rache

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Ende übernimmt der Usurpator Fortinbras das Zepter - ein Landsknecht mit der Sensibilität eines Schlächtergesellen. Die Springerstiefel weit von sich gestreckt, die Hosenträger heruntergelassen, nimmt er den Königsstuhl in Besitz, auf dem eben noch der jämmerliche Claudius gethront hatte.

Genüsslich betrachtet der Eindringling das Heer der Leichen; Vorfreude auf den fetten Happen Dänemark ist in seinem Grinsen. Dieses bis ins Mark verkommene Gemeinwesen ist schon lange dem Unter gang geweiht so wie mit fataler Zwangsläufigkeit dem moralischen Verfall einer Gesellschaft das Gewaltregime folgt.

Der von Wittenberg zurückgekehrte Hamlet scheint das nahende Ende zu ahnen, wenn er sich mit dem berühmten Stoßgebet «Oh, schmölze doch dies allzu feste Fleisch...» vor Ekel schüttelt. Die Angst, zu schwach zu sein, um die aus den Fugen geratene Welt wieder einrenken zu können, sitzt ihm fortan im Genick.

Als er, den Truppen des Fortinbras nachschauend, von deren Untaten im wehrlosen Polen erfährt, weiß er endgültig, dass seine Zeit zu Ende ist, bevor sie begonnen hat, dass das in Wittenberg Gelernte keine Gültigkeit mehr hat. So steigert er sich in einen wahren Amoklauf der Rache. Ophelia schlägt er brutal den Gang ins Kloster vor; den Polonius ermordet er kaltblütig; der Mutter sagt er, den Gartenstuhl auf dem die sitzt, respektlos hin und her schiebend, die Wahrheit ins Gesicht. Und mit einem Diktiergerät nimmt er die eigene Attacke auf «die Anmaßung der Ämter» auf, um seine Wut immer aufs Neue entzünden zu können.

Harald Koch ist von der Erscheinung her ein nervig-sensibler Hamlet, fiebrig erregt bis in die Haarwurzeln. Da aber liegt das Problem: zunehmend wird das ein Spiel mit geschwollenen Stirnadern. Der Überdruck erstickt Momente des Katzenjammers (wenn er heulend die Leiche des Polonius fortschleppt), des tiefempfundenen Schmerzes (wenn er die Anmut der toten Ophelia preist) und der komödiantischen Verstellung (wenn er Rosencrantz und Guldenstern an der Nase herumführt).

Ist es konzeptionelle Absicht oder der Dominanz des Polonius-Darstellers Jörg Seyer geschuldet? Just dieser aufgeblähte Schwätzer und Pedant rückt ins Zentrum des von Unmoral zerfressenen Hofes. Mit buchhalterischer Akribie notiert er Ophelias Darstellung ihrer Beziehung zu Hamlet; auf einem Mini-Schachspiel bereitet er in Gedanken seine nächsten Winkelzüge vor, und, erschauernd vor der eigenen Bedeutung, hält er eine Rede über die Genrevielfalt des Schauspiels. Um ihn herum nur aufgeblähte Mittelmäßigkeit, die mit gespielter Anteilnahme säuselnde Mutter Gertrud (Rita Feldmeier), der sich als souveräne Herrscher produzierende, in Wahrheit aber hasenfüßige Claudius (Peter Donath), der Sektglas shwenkende Dandy Laertes (David Emig) und die der Macht zum Munde plappernden Rosen- Crantz und Guldenstern (Mattes Herre, Markus Baumeister).

Regisseurin Wera Herzberg hat mit kräftigem Pinselstrich gezeichnet. Hamlet zerreißt die an der Rückwand aufgehängten Fotos von Claudius und Gertrud, Polonius wird in seinem Versteck unter der Bühne vom Prinzen mit einem Gartenstuhl erschlagen, Claudius dreht unter dem Trommelkommando seiner Gattin schwitzend eine Trimm-Dich-Runde nach der anderen, Rosencrantz und Guldenstern schleppen einen Kasten Bier an, um das Vertrauen des Objekts ihrer Spitzeleien zu erschleichen, und der nach Paris zurückkehrende Laertes singt frohgemut das Liedchen «mit dem Taxi nach Paris».

Mitunter aber überzieht die Regisseurin in ihrem Bemühen um drastische Eindeutigkeit. Warum Fortinbras bei seiner Durchreise am Portal seine Notdurft ver richten muss oder warum Osric, wenn er in Claudius Auftrag den Dänenprinz zum Duell einladen will, unzählige Runden mit dem modischen Tretroller drehen muss, das erschließt sich nicht.

Schwerer ins Gewicht aber fällt ein anderer Einwand. Der Inszenierung fehlt es ganz offensichtlich an rhythmischer Grundierung. Auch jene Szenen, die sich «wegspielen» lassen, sind zu abendfüllender Breite aufgebläht. Auch eingedenk der komplizierten Spiel- und Zuschaubedingungen in der Potsdamer «Blechbüchse» am Neuen Markt scheinen mir Striche und Akzentuierungen dringend geboten. Beides käme der Zugkraft dieser über weite Strecken anregenden Inszenierung zugute.

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