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  • Politik
  • TV-Kritik: »Der Tunnel«-Geschichtsbegradigung bei SAT 1

Abenfeuerspielplatz Mauer

  • Lesedauer: 5 Min.

Von Peter Hoff

Dies sei «eine wahre Geschichte», verspricht SAT.l in jeder Werbepause und gibt auf einem Insert auch gleich die Botschaft kund: «Liebe überwindet jede Grenze!» - Solchermaßen in unserem Weltgefühl gestärkt, konnten wir uns an die drei Stunden Film und die gute Stunde Werbung machen, die die Produktionskosten in Höhe von rund 13 Millionen Mark wieder einbringen sollte. Was sie wohl auch getan hat, denn 7,19 Millionen Zuschauer saßen am Sonntagabend vor dem Fernsehschirm, am Montag beim zweiten Teil waren es 6,61 Millionen. Und die nachfolgende SPIEGEL TV-Reportage wurde auch noch einmal von 3,64 Millionen gesehen.

Ein Quotenhit also allemal. Regisseur Roland Suso Richter kennt sich im Genre aus und inszenierte mit handwerklichem Geschick einen Thriller, wie er im deutschen Fernsehen so nur selten zu sehen ist, mit Spannung in den äußeren Vorgängen, wo die Verfolger den Verfolgten in die Hacken treten und Rettung schon eigentlich nicht mehr möglich scheint, bis sie sich - einmal erlöst aufgestöhnt und die Sehwitzehändchen wieder trocken gewischt - doch endlich, endlich noch einstellt! Bliebe also eigentlich kein Wunsch mehr offen - wenn da nicht die fatale Behauptung wäre, dass es sich ja um eine «wahre Geschichte» handele, angesiedelt im geteilten Berlin der Jahre 1961/62. Und handelnd vom Kalten Krieg, von dem die Menschen, die da einen Tunnel unter der Grenze zwischen zwei politischen Systemen hindurch graben, ebenso geprägt sind wie jene, die sie durch den Stollen von einem Teil der Stadt in den anderen holen wollen.

Von dieser Wirklichkeit freilich wird im Film aber auch gar nichts sichtbar. Denn so simpel, wie es die Autoren in ihren bundesrepublikanischen Bildungseinrichtungen gelernt haben, war die deutsche Geschichte der letzten rund 70 Jahre nicht beschaffen, die Welt nicht klar in Gut und Böse geschieden. Aber Differenzierung ist ja in keinem deutschen Bildungssystem bisher Lehrgegenstand gewesen.

Die SPIEGEL TV-Reportage von Henry Köhler, nach dem zweiten Teil des Fernsehfilms gesendet, wirft einiges Licht auf diesen politischen Hintergrund. Und siehe, plötzlich werden Figuren und Umstände historisch konkret fassbar. Denn die sich da unter der Bernauer Straße von Wedding nach Mitte durch den Lehm wühlten, waren Kinder ihrer Zeit. Im Schaufenster Westberlin stellte vor dem Mauerbau der politische Westen die Vor züge seiner Konsumgesellschaft zur Schau. Nicht ohne Wirkung, wie die Abwanderungszahlen von Ost nach West bewiesen. Zudem hatten auch damals schon Jahrzehnte des Antikommunismus - ungebrochen von der Weimarer Republik über das Tausendjährige Reich bis zur Bonner Republik - ihre Spuren im Bewusstsein hinterlassen. Kurz nach 45 begann dann der Kalte Krieg mit Propaganda, Spionage und Sabotage von beiden Seiten. Davon Waren auch die Tunnelbauer an der Bernauer Straße beeinflusst.

Nichts davon aber in dem Fernsehfilm. Das Welt- und Menschenbild ist nach den Maßgaben aktueller Geschichtsbegradigung versimpelt: die Guten gegen die Bösen, und damit diese Vereinfachung funk tioniert, wird eben mal das konkrete historische Umfeld ausgespart. Und die Lücke mit gängigen Klischees aufgefüllt. Im Westen .ist das Leben hart, aber frei. Im Osten werden die Menschen von der allgegenwärtigen Staatssicherheit bespitzelt und erpresst. Kein Wort von der Vergangenheit des historischen Vorbilds Hasso Herschel als CIA-Agent, nichts über die Zusammenarbeit der Tunnelbauer mit dem amerikanischen Geheimdienst und dem Verfassungsschutz in Westberlin!

Nein, von der spannenden realen Geschichte ist in der «wahren Geschichte», die der Fernsehfilm erzählt, nichts übriggeblieben. Nichts von der Geisteshaltung der FU-Studenten, die ihre alma mater als Hort der Freiheit begriffen und folglich auch vor terroristischen Aktivitäten nicht zurückschreckten. Aus dem Team von zeitweilig mehr als vierzig Leuten, die an dem Tunnel schippten, blieb im Film ein Häuflein von fünf Aufrechten. Eine Liebesgeschichte wurde der Story implantiert, auf dass das Herz auch was zum Bubbern habe, und ein Stasi-Oberst, der vom Helden mit der Waffe in Schach gehalten wird, bis auch das letzte Baby in der freien Welt nach Herzenslust quäken kann. Dazu noch ein bisschen Räuber und Gendarm-Spiel im Grenzgebiet, ein wenig Verkleidungskomödie.

Damit wird die Ernsthaftigkeit des Anliegens verspielt, die Mauer - ein schreck liches Bauwerk, ohne Zweifel und ohne jede Einschränkung - zum Abenteuer Spielplatz. Der Tod des Flüchtlings Peter Fechter wird in der Fluchtszene von Fritzis Freund Heiner zum aufdringlichen politischen Plakat: der verblutende Flüchtling auf der einen Seite der Mauer, die ver zweifelt weinende Geliebte auf der anderen, aus der Vogelperspektive fotografiert: es waren zwei Königskinder ...

Mit dem Film schielt die produzierende Anstalt nach dem internationalen Programmmarkt. Aus den beiden Italienern, die seinerzeit die Idee zum Tunnelbau hatten, wird im Film ein Italo-Amerikaner. Die Dramaturgie und das Figurenprofil sind american blend. Heino Ferch als Melchior (Hasso Herschel) spielt einen Heroen im Bruce-Willis-Format: cool bis ans Herz hinan, hart gegen sich, doch feinfühlig gegen die, die er liebt. Ein Held wie aus dem Handbuch über amerikanische Western oder - über den sozialistischen Realismus. Wie dieser ganze Film an die dogmatischsten sozialistisch-realistischen Filme der fünfziger Jahre erinnert: volkstümlich und parteilich, mit positiven Helden, die den gesellschaftlichen Fortschritt verkör pern. Wenn wir denn die deutsche Wiedervereinigung als diesen Fortschritt begreifen und unsere heutige Gesellschaft als letzte Offenbarung des Weltgeistes. Propaganda pur.

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