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  • Politik
  • Vor 130 Jahren: Die Pariser Kommune

»Wie Glut im Kraterherde ...«

  • Martin Hundt
  • Lesedauer: 6 Min.

Es sieht alles danach aus, als würden im Pariser Rathaus bald Sozialisten regieren, wie erstmals schon vor 130 Jahren. Niemand wird diese Ratsher ren mit den Kommunarden verwechseln, und doch ist die Erinnerung plötzlich lebendiger, drängender- Was geschah am 18. März 1871? Bei Vulkanen weiß man nie genau, wann sie ausbrechen und aus welcher Tiefe die Lava aufsteigt.

Einer der bedeutendsten sozialen Vulkane der Geschichte hatte seine Eruptionen 1789 1830, 1848 und 1871. Auch seitdem ist er keineswegs völlig erloschen, wie 1968 zeigte. In Paris wurde 1789 dem Feudalsystem der letztlich entscheidende Todesstoß versetzt, 1830 erstmals die Finanzbourgeoisie zur politisch herrschenden Kraft eines Landes, ging 1848 der bürgerliche Republikanismus in Arbeiter blut unter und zeigte 1871 das arbeitende Volk zum ersten Male in der Praxis seine gesellschaftlichen Gestaltungsprinzipien. Wie in einer Retorte hatte die Wunder Stadt an der Seine den normalen geschichtlichen Ablauf beschleunigt und in weniger als einem Jahrhundert drei Gesellschaftsordnungen in klassischer Weise zu Wort kommen lassen.

Wenn im Leben noch nicht bestehen konnte, was da im Frühjahr 1871 in einer historischen Sternstunde aufblitzte, wenn Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte der Rücknahme folgten, ist das kein Grund, sie dem Vergessen anheim fallen zu lassen. Nach jedem geschichtlichen Ereignis geht der Kampf um die Erinnerungshoheit weiter. 200 Jahre nach 1789 versuchten einflußreiche Kräfte in Frankreich, die große Revolution als relativ unwichtiges Ereignis herunterzuspielen und lediglich über die Guillotine zu reden - als Menetekel für alle Veränderungswilligen. Und von der Pariser Kommune von 1871 ist seit zehn Jahren in den deutschen Schulbüchern kaum noch die Rede.

Keiner der revolutionären Ausbrüche war von einer bewussten Kraft vorbereitet worden, aber es gab seit 1869 Arbeiterunruhen in Frankreich, alle sofort militärisch unterdrückt, es gab kleine Sektionen der I. Internationale. Das Fehlen einer zielklaren Partei war kein Vorteil. Schon ein Teilnehmer an den Ereignissen, der Journalist und Historiker Prosper Lissagaray, urteilte: »Wenn eine Partei der Weisheit, der Klarheit, der Vernunft, der Leitung bedarf, so ist es die revolutionäre.«

Der Deutsch-Französische Krieg über lagerte die weiteren Ereignisse. Im Juli 1870 erklärte Frankreich den Krieg, die preußisch-deutschen Truppen siegten rasch, am 2. September geriet Napoleon III. in Gefangenschaft, am 4. September wurde Frankreich zur Republik erklärt, seit dem 20. September war Paris eingeschlössen. Es folgte ein schwerer Hungerwinter.

Während Paris von deutschen und französischen Truppen belagert ist, findet am 18. Januar 1871 in Versailles, am Sitz der landesverräterischen französischen Regierung, die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches statt. Welche Symbolik und welch politische Kurzsichtigkeit, denn damit war zugleich die Annexion Elsaß-Lothringens festgeschrieben, von der nicht nur der Generalrat der Internationale hellsichtig schrieb, dass in ihr der Keim eines neuen europäischen Krieges lag. Zur politischen Unterdrückung und zur »normalen« sozialen Ausbeutung war die nationale Schande der schmählichen Kapitulation der »eigenen« Regierung vor dem fremden Eindringling gekommen. Nun war die Situation eingetreten, die Brecht in die Worte fasste: In Erwägung, daß wir der Regierung/ Was sie immer auch verspricht, nicht traun,/ Haben wir beschlossen, unter eigner Führung/ Uns nunmehr ein gutes Leben aufzubaun.

Obwohl die Arbeiter zunächst gegen den Krieg demonstriert hatten, zeigte das Volk mehr Willen zur Vaterlandsverteidigung als die Regierung. Hier lag auch der Anlass zum Aufstand vom 18. März 1871. Die Regierung ließ in einer Nacht-und- Nebel-Aktion 200 Kanonen stehlen, die der Nationalgarde von Paris gehörten. Sie wurden vom Volk zurückerobert. Diese Aktion schob ein Zentralkomitee an die Macht, das eigentlich für die Organisation der Nationalgarde aufgestellt worden war.

Es sah sich an der Spitze einer plötzlich ausgebrochenen und führerlos dastehenden Revolution. Seit dem 19 März wehte die rote Fahne über dem Rathaus von Paris. »Was das Volk suchte, war eine Staatsform, die ihm an der Verbesserung seines Loses zu arbeiten erlaubte.« (Lissagaray) Das war ihm in Paris nur 72 Tage vergönnt. Und noch weniger Lebenszeit hatten die Kommunen von Lyon, Mar seille, Toulouse, St. Etienne und Narbonne. Aber- Ein »neuer Ausgangspunkt von welthistorischer Wichtigkeit« war gewonnen (Marx).

Die größte Stadt des Kontinents befand sich zwei Monate in den Händen des Volkes. Es wurden sofort allgemeine, freie Wahlen angesetzt, die sich nur durch Kabalen der Reaktion bis zum 26. März ver schoben. Das Zentralkomitee trat seine Macht am selben Tage an die gewählte Kommune, d. h. die Gemeinde ab. Die Kommune war keine Regierung der Ar beiterklasse. Von den 70 Mitgliedern des Rates waren nur 25 Arbeiter und nur 13 Mitglieder der Internationale. Das Wort führten vor allem Proudhonisten und Blanquisten, neben wenigen Marxisten. Es gab viele Beispiele von romantischer Vertrauensseligkeit, uneffektiver Begeisterung. Der Rat der Kommune vereinigte exekutive und legislative Gewalt. Die meisten Beamten waren nach Versailles geflohen, sogar die Post löste sich auf. Aber die innere Verwaltung wurde schnell und effektiv wiederhergestellt. Der Kommune schlössen sich die 10 000 Freimaurer von Paris an, einschließlich einer Frauenloge.

Demokratische und soziale Maßnahmen wurden ergriffen, das stehende Heer durch allgemeine Volksbewaffnung er setzt, die Bürokratie beseitigt (fortan gab es nur ein Viertel der bisherigen Beamten, die alle wählbar waren), die völlige Gleichberechtigung der Frau proklamiert, verschiedene Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen des einfachen Volkes eingeleitet. Ein Dekret vom 16. April regelte die Übernahme verlassener Fabriken durch Arbeitergenossenschaften. Die Demokratie wurde nicht abgeschafft, sie wurde übertrieben. Zu keiner Zeit der Kommune war die reaktionäre Presse, die mit haarsträubenden Lügen hetzte, in Paris verboten. Die Kommune wurde im Namen der Gesetzlichkeit bekämpft, und zwar von Leuten, die 20 Jahre lang dem bonapartistischen Regime gedient hatten, das durch einen veritablen Staatsstreich gegen die Republik zur Macht gelangt war.

Schon eine Woche nach der Wahl vom 26. März begannen die Angriffe der Belagerer, also nur eine einzige Woche stand zu friedlicher Arbeit zur Verfügung. Paris war eine Festung ersten Ranges, im Sturm kaum zu nehmen. Die vereinten Kräfte der deutschen Besatzungstruppen und der Truppen, die bei der Regierung in Ver sailles verblieben waren, reichten kaum zur Einschließung der Stadt hin. Die siegreiche und die besiegte Armee verbündeten sich zur Niederschlagung einer frei gewählten Volksmacht! Obgleich die Kommune auch neue Technik einsetzte, z. B. Nachrichten aus dem belagerten Paris durch Ballonfahrer schickte, gepanzerte Eisenbahngeschütze und Kanonenboote auf der Seine einsetzte, wurde die militärische Wachsamkeit doch grob unterschätzt.

Am 21. Mai drangen die ersten Regierungstruppen in Paris ein, eine Armee von 130 000 Soldaten. Eine Woche währten der Häuserkampf, das Inbrandschießen ganzer Stadtteile. Es begann sofort ein Massenmorden durch die Sieger, das sich noch monatelang fortsetzte. Wenigstens 20 000 Menschen wurden sofort erschossen, 40 000 unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert, wobei viele zu Tode kamen, etwa 28 000 deportiert, meist nach Neukaledonien im Stillen Ozean. Als wenige Jahre später wieder Wahlen in Paris stattfanden, fehlten 100 000 Wahlberechtigte.

Auf dem Montmartre, wo die letzten Kommunarden gefallen waren, wurde in über 40 Jahren Bauzeit die riesige Kathedrale Sacre Coeur errichtet, zu der heute noch gewallfahrt wird. Sind aber Kathedralen verläßliche Grabplatten gegen Vulkanausbrüche? Ein Mitglied des Rates der Kommune war der Packer Eugene Pottier, der nach England fliehen konnte und unter dem unmittelbaren Eindruck der Niedermetzelung der Kommune die »Inter nationale« dichtete. Auch Pottier verglich die Revolution mit einem Vulkan: »Das Recht, wie Glut im Kraterherde, nun mit Macht zum Durchbruch dringt!«

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