Die Insel mit der Laus

Auf Lanzarote werden Schildläuse wegen ihres roten Farbstoffs gezüchtet

  • Walter Schmidt
  • Lesedauer: 3 Min.
Immer am Vormittag und dann wieder nach einer Siesta über Mittag kommt der 90-jährige Lorenzo dorthin, wo eine hüfthohe Mauer aus Vulkangestein das Feigenkaktus-Feld vom Parkplatz des Kakteengartens abgrenzt. Viele Touristen kommen hierher. Kein schlechter Platz für jemanden, der gegen etwas Geld Fotos von sich machen lassen möchte. Genauer gesagt, nicht nur von sich selbst, sondern auch von weiblichen Schildläusen, die auf den fleischigen Blättern der Kakteen leben. Der alte Mann muss nicht lange auf Interessierte warten. Zum Kaktusgarten in Guatiza an der Ostküste Lanzarotes kommen viele Urlauber, ist doch der anmutige, wundervoll in das Umfeld integrierte Landschaftsgarten mit seinen rund 16 000 dornigen Kakteen eine der Attraktionen der westlichsten Kanaren-Insel. Die Vielfalt von 1420 Kakteenarten ist hier zu bestaunen, arrangiert zu einem Kunstwerk, das der Inselheilige César Manrique geschaffen hat. Der Garten aus Steinen und Kakteen, angelegt im Kessel eines ehemaligen Steinbruchs, war die letzte Schöpfung des weltbekannten Künstlers, bevor der damals 73-jährige 1992 in der Nähe der Hauptstadt Arrecife bei einem Verkehrsunfall starb. Zwischen den langen Reihen nahe dem Kaktusgarten von Guatiza gehen Bauern von Pflanze zu Pflanze. Sie ernten Cochenille - nur wenige Millimeter große Schildläuse, die vom Opuntien-Saft, ihrer Lieblingsspeise, leben. Sie liefern buchstäblich blutroten Farbstoff, so genanntes Karmesin. Bis zu fünf Läusegenerationen wachsen pro Jahr heran. In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts haben die Spanier die aus Mexiko stammenden Opuntien samt der begehrten Läuse auf die Kanaren gebracht. Schon die Azteken nutzen die dornigen Pflanzen und färbten mit dem Blut der Parasiten ihre Gewänder. Die Spanier setzten das Karmesin als Alternative zu Purpur ein - einem roten Farbstoff, der zum Beispiel aus dem Schleim der im Mittelmeer lebenden Purpurschnecke (Murex trunculus) gewonnen wird. Um ein Gramm Purpur herzustellen, braucht man 10 000 Schnecken, und so kostet schon diese geringe Menge im Pigment-Fachhandel etwa 2000 Euro. Karmesin lässt sich deutlich günstiger gewinnen, auch wenn man für ein Gramm davon den Körpersaft von mehreren tausend Läusen benötigt. Obwohl heute immer häufiger künstliche Farbstoffe zum Einsatz kommen, wird das Blut der Schildläuse noch immer genutzt - so etwa zum Röten von Stoffen, Lippenstiften, Sirup und Tabletten, aber auch von Wurst, Joghurt und Bonbons. Sogar Campari wird mit Läuse-Karmesin gefärbt. Auch Lorenzo war Kaktusbauer. Das Ernten erledigen inzwischen andere und liefern die Läuse einer Kooperative ab, die sie verkauft. Auch die Opuntien-Früchte, tunas genannt, sind von Nutzen: Aus den aromatischen Feigen lässt sich Saft gewinnen und Marmelade herstellen. Seinen Zuhörern erzählt Lorenzo gern, dass die Cochenille-Bauern auf Lanzarote das Läuseblut auch selber verwenden. »Wir färben damit Wolle«, berichtet er. In einem Stoffsack, den er bei sich trägt, hat Lorenzo getrocknete Läuse dabei, aufbewahrt in Marmeladengläsern. Fragt man Lorenzo danach, ob er ein paar seiner Trockenläuse erübrigen kann, auch gegen Bezahlung, schaut er einen kurz verwundert an, als sei man gerade einer Raumkapsel entstiegen. Doch dann zieht er eines seiner Marmeladengläser aus dem Sack hervor und lässt es für sieben Euro den Besitzer wechseln. Kann ihm ja nur recht sein, dass die Touristen Andenken nicht nur in den vielen Souvernirläden Lanzarotes oder bei einem der Winzer der Insel erstehen, sondern gleich hier bei ihm am Kakteenfeld. Und wenn sie dann zu Hause erzählen, dass Läuseblut im 19.Jahrhundert einer der wichtigsten Exportartikel Spaniens war und jetzt wieder eine zaghafte Renaissance erlebt, kann auch das nicht schaden. Schließlich hat Lanzarote mehr zu bieten als Strände, Sonne, Kamele und noch immer glühende Feuerberge (Montanas del Fuego). Von Manriques Kunstwerken einmal ganz abgesehen.

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