Die Zeit v.E.S. und die Zeit n.E.S.

Sieben Tage, sieben Nächte: der Wochenrückblick mit Tom Strohschneider

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 3 Min.

Vielleicht wird irgendwann einmal die Geschichte unterschieden in die Epoche vor Edward Snowden und die danach. In der Zeit v.E.S. konnte man zwar auch schon wissen, dass Staaten, die »guten« wie die »bösen«, zu allen möglichen, meist unlauteren Zwecken andere Länder, nicht zuletzt: massenweise Menschen ausspähten. Aber das Erregungsniveau erreichte nur selten den in der heutigen Zeit n.E.S. üblichen Pegel.

Sieht man vielleicht von jenen Wochen in der zu Ende gehenden DDR ab, in der keine Demo und kein Flugblatt ohne den Hinweis auskam, dass mit der Bespitzelung endlich Schluss sein müsse. Das geht einem in einer Edward-Snowden-Woche wie dieser durch den Kopf – nicht aus Freude an schiefen Vergleichen oder um die Falschheit des einen hinter der Kritikwürdigkeit des anderen verschwinden zu lassen. Sondern weil es – Jahrestage! – Anfang dieser Woche Anlass gab, in die Geschichte zurückzublicken und alte Redemitschriften noch einmal nachzulesen.

Wovor warnte Christoph Hein an jenem 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz? »Dass nicht auch wir jetzt Strukturen schaffen, denen wir eines Tages hilflos ausgeliefert sind.« Freilich hat weder Hein noch einer der vielen anderen, die damals in Berlin für eine andere Gesellschaft auf die Straße gingen, ganz selbst »diese Strukturen« geschaffen, von denen in der Zeit n.E.S. nun so oft am Beispiel anderer Länder die Rede ist. Es ist aber in der Zeit v.E.S. auch nicht gelungen, eine politische Mehrheit gegen das Problem erfolgreich zu mobilisieren.

Gemeint sind hier übrigens nicht die USA, die weder das massenhafte Überwachen anderer erfunden haben noch damit allein in der Weltgeschichte herumstehen. Über Brasilien, das eben noch bitterliche Tränen als NSA-Opfer vergoss, haben wir in dieser Woche erfahren, dass es höchstselbst Botschaften ausspähte – unter anderem die der USA. Eine Überraschung? So wenig wie es eine wäre, wenn nun »bekannt« würde, dass auch deutsche Geheimdienste andere Länder ausspionierten. Was sonst machen die Agenten des BND im Ausland: Kaffeetrinken?

Apropos Zeit n.E.S.: Auch das Umfragewesen hat sich ganz darauf eingestellt. Ist Edward Snowden ein Held? Klar, sagt eine Mehrheit. Sind die USA noch vertrauenswürdig? Nein, sagt eine Mehrheit. Warum fragt eigentlich kein Institut danach, was man davon hielte, auf Geheimdienste ganz zu verzichten?

Friedrich Schorlemmer hat am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz gesagt, eine echte Demokratie benötige »eine Atmosphäre des Vertrauens«, und diese könne erst entstehen, »wenn das größte innenpolitische Sicherheitsrisiko, die Staatssicherheit, radikal abgebaut und vom Volk kontrolliert wird«. Das ist in der Zeit v.E.S. gesprochen. Und es ist in der Zeit n.E.S. nicht weniger gültig.

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