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Russland gehört zu Europa

Manfred Hildermeier hat ein weiteres Standardwerk verfasst

  • Horst Schützler
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach seiner anspruchsvollen Geschichte der Sowjetunion, die 1998 erschien und als Standardwerk gilt, legt der Göttinger Osteuropahistoriker Manfred Hildermeier nun eine voluminöse Geschichte Russlands vor. An dieser hat er gut acht Jahre gearbeitet. Mit dem vorherigen Werk zusammen bietet er nunmehr eine umfassende Gesamtdarstellung der russischen Geschichte, wie sie nur selten einem Forscher gelungen ist - ein Lebenswerk.

Die Darstellung beginnt mit der Kiever Rus im frühen Mittelalter und führt an das Ende des Zarenreiches mit der Februar- und Oktoberrevolution 1917 heran. Die Geschichte Russlands wird chronologisch und sachlich-inhaltlich erfasst und gekonnt gründlich analysiert. Es werden Herrschaft, Gesellschaft, Wirtschaft sowie materielle und geistige Kultur in ihren Zusammenhängen untersucht und verständlich gemacht.

Drei Leitlinien durchziehen die Darstellung und bestimmen den Wert dieses Buches wesentlich:

Erstens: Ausgangspunkt der Betrachtungen sind die gängigen, oft politisch untersetzten, konservativen, liberalen und »orthodox­marxistischen« Deutungen und Konzepte der geschichtlichen Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse, denen der Autor sachlich Zustimmung bzw. Ablehnung zuteil werden lässt und eigene Auffassung entgegenstellt. Dabei urteilt er mit Verweis auf neue Forschungsergebnisse und Defizite und fordert für das große Russland differenzierende Sicht und Berücksichtigung der regionalen und sektoralen Unterschiede ein.

Zweitens: Immer wieder wird das wechselvolle Verhältnis zu Europa ins Blickfeld gerückt. Dies geschieht unter dem Aspekt von Annäherung und Divergenz nicht nur in den oft von furchtbaren Kriegen überdeckten außenpolitischen Beziehungen, sondern in der Normalität und Alltäglichkeit der Wirtschaft, Kultur und Lebensweise der Menschen.

Viel Interessantes ist hier zu lesen, zum Beispiel: Am Vorabend des Ersten Weltkrieges sei das Zarenreich in vielen Bereichen - wirtschaftlich-technisch-infrastrukturell, materiell­-zivilisatorisch sowie kulturell-wissenschaftlich - Deutschland, Frankreich oder England so nahe gekommen, dass St. Petersburg und Moskau im gleichen Atemzug mit Berlin, London, Paris oder Wien genannt wurden. Nach wie vor unterschied sich Russland zwar schon wegen seiner Randlage sowie konfessionell, kulturell und politisch von Europa, aber es gehörte essenziell und nicht nur dank monarchischer Verbindungen zu diesem Kontinent.

Drittens: Rückständigkeit und Modernisierung sind bis heute die gern benutzten Begrifflichkeiten bei der Erörterung der Geschichte und Gegenwart Russlands. War und - wenn ja - in welchem Maße und in welchen Sphären dieses Riesenreich die Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur rückständig? Was wurde von einer Modernisierung erwartet, wie sollte sie erfolgen? Hildermeier gibt hierauf keine generelle Antwort.

Peter I. (1682-1725) attestiert er eine Neigung zu Zorn und impulsivem Handeln, eine gute Dosis Sadismus, einen bedenkenlosen Umgang mit Menschenleben mit einem ungewöhnlichen Ausmaß an Opfern, die Fortsetzung der ererbten Tyrannei. Er stellt zugleich fest: Die gewaltsame Modernisierung, die jener seinem Land verschrieb, war ein frühes und extremes Beispiel einer Reform von oben. Peter I. »peitschte« sein Land in die europäische Neuzeit. Nach ihm war Russland, auch zu Zeiten, in denen es sich auf eigene Werte und Errungenschaften besann, aus Europa nicht mehr wegzudenken. Hildermeier betont: »Gelegentlich gezogene Vergleiche mit Stalin bleiben sicher mehr als oberflächlich und historisch unsinnig.«

Das Buch bietet viele aktuelle Bezüge. Genannt sei in der entbrennenden Diskussion um den Ausbruch des Ersten Weltkrieges anlässlich des nahenden 100. Jahrestages die Sicht, mit der in der Schuldfrage die Zurückhaltung Russlands und das Drängen Deutschlands verdeutlicht wird. Aufschlussreich ist die Darstellung zur Lage der Juden im Zarenreich und zum Entstehen eines Antisemitismus, der »viele Ähnlichkeiten zu analogen geistig­gesellschaftlichen Strömungen und politischen Tendenzen in Europa aufwies«.

Dem Leser wird keine leichte, sondern zum Mitdenken auffordernde Lektüre geboten. Wer über das aktuelle Verhältnis zwischen Russland und Europa, insbesondere auch Deutschland, besorgt ist und vielleicht gar etwas zu dessen Entspannung beitragen will, der findet bei diesem renommierten Historiker viele wertvolle Anregungen.

Manfred Hildermeier:
Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution.
C. H. Beck. 1504 S., geb., 49,95 €

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