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Figur der Freiheit

Gernot Wolfram und der leuchtende Augenblick

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Gedankenreise beginnt am Versammlungsort der kleinen jüdischen Gemeinschaft Beth Zion in Berlin, genauer gesagt mit einem Foto, das vor Zeiten dort aufgenommen wurde. Es zeigt junge Männer in weißen Hemden beim Lesen. Den Kulturwissenschaftler Gernot Wolfram hat die Atmosphäre des Bildes fasziniert, die Zufriedenheit, die Entspanntheit in den Gesichtern, das versunkene Hingegebensein an den Augenblick. Da beschwört er die jüdische Tradition, dass der ständig erneuerte Kontakt zu den Buchstaben weit bedeutsamer als das Wissen sei. »Wenn wir lesen, betreten wir eine besondere Zone von Gegenwart.« Bindung an die Kraft der Buchstaben - dafür brauche es »besondere Orte«.

Nun mag diese kleine Synagoge so ein Ort gewesen sein, aber für die meisten von uns heute geht alles viel profaner zu. Wir lesen im Flugzeug oder in der Bahn, auch wenn wir es in dem Moment vielleicht lieber im Bett tun würden. Je privater der Raum, um so gelöster kann man sich fühlen, während man in einer Bibliothek auf harten Stühlen sitzt. Zu Hause darf man während der Lektüre Kaffee trinken oder Wein, in einem Café kann man das auch sehr bequem. Und dort besteht zudem, zumindest theoretisch, die Möglichkeit, »dass wir plötzlich den Kopf heben und auf den Blick eines anderen treffen, der das Bedürfnis hat, uns zu fragen: Was liest du da eigentlich?«.

Eine Szene, so lebendig kann man sie vor sich sehen, dass man sie weiterspinnen möchte. Was sind Buch-Abenteuer denn gegen die im Leben! Aber nicht darum geht es hier, sondern um das Lesen und die vielen verschiedenen Orte dafür. Wie sie auf das Lektüreerlebnis zurückwirken, will der Autor dieses überaus anregenden Essays wissen, was für vibrierende Verbindungen sich da womöglich einstellen. Dass die jeweils konkrete Lebenssituation für literarische Wahrnehmung Bedeutung hat - Kritiker, die schnell mit Wertungen bei der Hand sind, mögen es sich vor Augen halten. Das Verhältnis zum Text ist immer ein subjektives; der professionelle Leser hat Laien lediglich voraus, dass ihm bewusst werden kann, was da für ein Zwiegespräch zwischen ihm und dem Autor stattfindet und wie viele Stimmen sich noch einmischen.

Andererseits, wer aus einer Verkopftheit nicht zur Selbstvergessenheit gelangen, sich nicht vertiefen, versenken kann in Lektüre, dem entgeht das Wichtigste: »der leuchtende Augenblick«, wie Gernot Wolfram sein Buch nennt. Dass solcherart Lesekultur womöglich nicht massenhaft ist, dass sie sogar in den Hintergrund treten könnte gegenüber neuen Medien, die wieder ganz andere Sensationen versprechen, dem Autor, Jahrgang 1975, ist es auf jeder Seite bewusst.

Er hält es für möglich, dass die eigene Bibliothek als symbolischer Ort der Bildung überflüssig werden könnte. (Vielleicht aber auch nicht?) Ihn interessiert, was anders ist, wenn man sich über ein E-Book beugt. Was prägt den »nomadischen Leser« der Gegenwart? Worin hat das Internet seine Anziehungskraft? Was verspricht uns die virtuelle Welt? Heimat? Freiheit? Interessant seine Definition, dass der Leser von vornherein eine »Figur der Freiheit« sei, was den Gedanken nahelegt, dass, wenn die tradierten Orte und Arten des Lesens verschwänden, sich neue Möglichkeiten eröffnen würden. Je lauter, hektischer das Jetzt, um so wichtiger womöglich die »Stätten des Innehaltens, an denen Bewegung und Stille in eins fallen und der lesende Geist vollkommen zu sich selbst kommt«.

Gernot Wolfram:
Der leuchtende Augenblick. Über Menschen und Orte des Lesens.
Hentrich & Hentrich. 154 S., br., 14,90 €

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