Hören wir auf, jemand zu sein?

Dresden II: »Weiße Flecken«, ein Projekt der Bürgerbühne zum Thema Altersdemenz

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn wir die Welt entdecken, werden wir uns selbst neu entdecken» - mit dieser Voraussage rief einst die Dresdner «Bürgerbühne», die aus dem «Bürgerchor» in Volker Löschs Dresdner Inszenierungen hervorgegangen war, zur Mitwirkung auf. 12 000 Bürger aller Altersstufen und aller sozialen Schichten sind seitdem dem Ruf gefolgt. Themen, die in schmerzhafter Weise ihr eigenes Leben berühren, sind von ihnen auf der Bühne durchgespielt worden.

In «Meine Akte und ich» berichteten neun Bürger von den Akten, die von der Staatssicherheit in der DDR über sie angelegt worden waren, und halfen so, die jüngere deutsche Geschichte zu rekonstruieren. Im Projekt «Das Geldstück» machten zwölf Zeitgenossen, gefangen in einem stilisierten Tresorraum, einen öffentlichen Kassensturz, erzählten von der ersten Berührung mit dem «Westgeld», den ersten Börsengewinnen und präsentierten dabei eigene Schuldscheine und Aktienzertifikate.

Im nun zur Uraufführung gelangten Projekt «Weiße Flecken» nähern sich die «Experten des Alltags» dem auf der Berufsbühne kaum behandelten Problemkreis der Altersdemenz. Auf der Bühne stehen ein Berufsschauspieler (mit Albrecht Goette einer der Protagonisten des Staatsschauspielensembles) und 15 Bürger zwischen 17 und 80. «Wann hören wir auf, jemand zu sein?» ist die erste Frage an diesem Abend und diese Frage taucht immer wieder in den Erinnerungen der Spieler auf.

Die ehemalige niedergelassene Ärztin erzählt, mühsam um Fassung ringend, vom allmählichen Erinnerungsverlust ihres Ehemannes, eine junge Frau vom Abtauchen ihrer Großeltern in die geistige Dunkelheit, eine ältere Frau stellt sich angesichts der Alzheimererkrankung ihrer Mutter die Frage, ob sie es nicht vorher hätte bemerken müssen, und eine leitende Pflegekraft verzweifelt über die Unmöglichkeit, «70 Patienten in der psychiatrischen Klinik gleichzeitig» betreuen zu können.

Die Mitspieler der Berichtenden agieren als «Die Anderen» zur Veranschaulichung der Monologe mit. Eine übernimmt den Part des Ehemanns der Ärztin, der, damals noch im Vollbesitz der geistigen Kräfte, vor den Risiken der ärztlichen Selbstständigkeit warnt, zwei andere spielen beim Bericht über die Einlieferung der Großeltern in die Klinik zwei Leidensgenossen, die mit den Großeltern zusammen Würfel spielen, und der berichtenden Tochter mit den Gewissensqualen tritt eine leibliche Schwester zur Seite, während sie selbst zwischen der Darstellung der Ich-Erzählerin und der Mutter hin und herspringt.

Manche Hinzuerfindungen der Regie (Tobias Rausch und Matthias Reichwald) sind mehr illustrierende Zutat, als dass sie die Geschichte zuspitzen könnten. Unnötig beispielsweise, wenn sich beim Bericht des 80-jährigen Statikingenieurs über den Verlust seiner Frau eine der Mitspielerinnen bemüht, einen Wäschestapel auf ihrem Kopf im statischen Gleichgewicht zu halten. Insgesamt lebt dieser Abend von der Authentizität der berichtenden Bürger und weniger von der darstellerischen Ausformung. Dennoch bleiben einige Momente individueller Gestaltung in Erinnerung - so wenn die Ärztin (Christine Lehmann) sich erregt über die mangelnde Sensibilität der Ärzte, die ihr den traurigen Befund ihren Mann betreffend mitteilen, oder wenn dem Statiker (Karl-Heinz Kind) beim Bericht vom Tod der Frau die Stimme versagt.

In einem absichtsvollen Spannungsverhältnis zum andeutend berichtenden Spiel der Bürger steht das psychologisch vielschichtige Spiel Albrecht Goettes. Er zeigt einen nervenden Klinikinsassen, an dessen Macken und Verstiegenheiten sich das Klinikpersonal nur mit Anstrengung gewöhnen kann. Aus dessen wirren Behauptungen erfahren wir, dass er offensichtlich geschieden ist und von seinen Erinnerungen an Frau und Töchter verfolgt wird. Zwei junge Mitspielerinnen (Clara und Maria Wördemann), die ihn als seine Töchter an schwerwiegende Versäumnisse in der Ehe erinnern, legen diese Vermutung nahe.

Goette ist im jähen Wechsel trotzig und von ungestilltem Liebesbedürfnis, er wähnt sich als ein von unsichtbaren Mächten Entführter und teilt stolz wie ein Pfau mit, dass er die Entführer überlistet hat. Kindheitserinnerungen an seine offenbar linientreuen Eltern, die ihn zur unbedingten Pflichterfüllung getrieben haben, deuten auf Ursachen seiner späteren Erkrankung hin. Gelingt Goette so etwas wie die Zeichnung eines individuellen Falls, so reduziert sich der chorische Bericht der «Anderen», der als atemlose Verlesung von Protokollen über Finanzierungs- und Rechtsprobleme der Pflege daherkommt, zur puren Informationsvermittlung.

Nächste Vorstellung: 14.12.

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